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Giovanni Rossi: Cecilia

Cecilia: Finis familiae

"Viva l’Anarchia! Viva la Colonia Cecilia!" Es ist wieder Zeit für Utopien! Der aus dem schönen Pisa in Italien stammende Giovanni Rossi mitbegründete eine utopische Gemeinschaft im brasilianischen Bundesstaat Paraná. Auch wenn das Unternehmen "Cecilia" schlussendlich scheiterte, ist dies eigentlich nur ein Grund mehr, sich damit zu beschäftigen. 1891 umfasste die "Kolonie" immerhin 250 Personen, sämtlich von Rossi persönlich aus Cecina, Livorno, Spezia und Turin, Mailand und Brescia eingesammelt.

"Polenta gewürzt mit Idealismus"

Die Idee, dass Menschen ohne Herrschaft leben könnten, gibt es schon lange. Denn nichts anderes bedeutet das Wort An-Archie eigentlich. Viele würden damit (auch heute noch) Chaos und Unordnung assoziieren, aber für Rossi und seine Genossen war es vor allem eine Gelegenheit sozialistische Ideen in die Praxis umzusetzen. Egoismus, Gewalt, Verschwendung, Verstellung, Geiz u. a. Todsünden sollte es in der Neuen Welt nicht mehr geben und vor allem wollte Rossi eines: die Familie abschaffen. Gerade diese Passagen in vorliegender Textsammlung verblüffen, weiß man doch, dass Familie gerade im katholischen Italien sogar noch höher als der Staat oder die Kirche angesehen wird. Aber Rossi sieht in ihr die "furchtbarste Schöpferin von mannigfaltigen Egoismen und Rivalitäten". "Die steigende und spontane Auflösung der monogamen Familie bereitet den Boden für den Sieg unserer Ideale", schreibt Rossi in seinem 5-Punkte-Programm für Cecilia. Honni soi qui mal y pense, möchte man hier anmerken, denn tatsächlich ging es dabei nicht um Gruppensex, sondern um nichts weniger als die Befreiung der Frau. Denn bei aller Kritik des gemeinschaftlichen Lebens und der Idee der Kommune, muss doch betont werden, dass es vor allem für Frauen eine ungemeine Befreiung bedeutete, in einer solchen Gemeinschaft zu leben.

Familie als Antipode des Kollektivs

Rossi macht sich sehr einfühlsam auch Gedanken über das Seelenleben von Eleda, einer seiner Angebeteten, die zur selben Zeit mit zwei Männern liiert ist. Lesenswert sind etwa die Passagen mit dem Fragenkatalog an alle Beteiligten, aber natürlich auch seine Ausführungen über die "heilige Familie": "Die Scharlatane der Moral, die Aufschneider der Religion, die Lügner der Kunst, die Kretins der Schule und all jenes zahllose Geschmeiß, welches den menschlichen Charakter von jeher systematisch vertiert hat, haben es fertiggebracht, der ekelhaften Wirklichkeit der Familien die poetische, liebliche, heilige Abstraktion der Familie gegenüberzustellen." (...) "Und dieses häusliche Eigentum, das unverletzliche Sanktuarium der Familie, das geheime Frauengemach wird zum Marterkeller der heiligen Inquisition, zur geheimen Zelle der Bastille." Familie und Freiheit seien sich widersprechende Dinge und Familie durch Simulation und Hypokrisie gekennzeichnet. Sie bildet für Rossi sogar "den größten Herd von Immoralität und Gemeinheit". Sein Appell zum "finis familiae" war wohl vor allem durch seine Erfahrungen in der Kolonie geprägt und früh schon erkannte Rossi, dass "die Affektbeziehungen vielleicht die brennende Frage des XX. Jahrhunderts bildet".

Aufschlussreich ist selbstverständlich auch das Nachwort des Herausgebers, der sogar ein Zitat von Goethe pro Anarchia ausgegraben hat: "Warum mir aber in neuester Welt/Anarchie gar so wohl gefällt? Ein jeder lebt nach seinem Sinn, /Das ist nun als auch mein Gewinn./Ich lass einem jeden sein Bestreben,/Um auch nach meinem Sinne zu leben." Wäre das nicht auch ein gutes Motto für das XXI. Jahrhundert?


von Juergen Weber - 14. Juli 2018
Cecilia
Giovanni Rossi
Tobias Roth (Hrsg.)
Alfred Sanftleben (Übersetzung)
Cecilia

Anarchie und Freie Liebe
Das Kulturelle Gedächtnis 2018
Originalsprache: Italienisch
224 Seiten, gebunden

EAN 978-3946990185