Ästhetik und Struktur

"A bird being released from a child's hand", so nannte Santiago Calatrava seine 2016 eröffnete World Trade Center PATH-Station, ein unterirdischer Bahnhof, der von einer überdimensionalen  Empfangshalle, dem Oculus, oberirdisch gekrönt wird. Das riesige Glasbauwerk, das von Licht durchflutet wird, beherbergt Einzelhandelsgeschäfte mit 45.000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Ein Superlativ der Ingenieurskunst und Architektur, das Bewunderer und Kritiker bis heute verblüfft.

Die Formen des Santiago Calatrava, die in vorliegender Werkschau von 1979 bis heute präsentiert werden, zeigt aber auch frühe Bauten oder das jüngste Großprojekt, den Pavillon für die Arabischen Emirate auf der Expo 2020. Zahlreiche Texte, Fotografien und Aquarellskizzen verdeutlichen die einzigartige kreative Vision des Ingenieurs, Künstlers und Architekten aus Valencia, Spanien. Calatrava hatte erst an der ETSA in Valencia studiert und dann an der ETH Zürich promoviert, wo er 1981 sein eigenes Architektur- und Bauingenieurbüro gründete und das bis heute in der Schweiz besteht. Zu weiteren bekannten Bauten gehören das Milwaukee Art Museum, das Opernhaus in Valencia, die Olympischen Sportanlagen in Athen. Was die Bauten alle gemeinsam haben, ist wohl ihre Inspiration. Diese schöpfte der Meister aus vielen unterschiedlichen Quellen, darunter Auguste Rodins Umgang mit Skulptur und Architektur sowie die Prinzipien des Klassizismus und der griechischen Kykladenkunst. Aber auch die Natur, für ihn Mutter und Lehrmeisterin sowie das Raumfahrtdesign der NASA beeinflussten den durchaus kontrovers diskutierten Architekten. "Natura mater et magistra” (also Natur als Mutter und Lehrerin) erzählt er in einem Interview. Dass sich der Künstler schließlich doch für eine Laufbahn als Architekt und Ingenieur entschied, erklärt er mit einer Art Erweckungserlebnis bei einem Besuch in der Kathedrale Notre Dame de Paris: "What I came to understand was that as an artform, architecture was bonded by the exact knowledge of technology or material properties, and the beauty of this cathedral was, for me, the pure essence of the craft; the alpha and omega. Engineering, I discovered, was essential to gain more receptivity about structural and material behavior. So, for me, it’s a symbiosis; together with painting and sculpting, the world of mathematics and mechanics is one that I love and am perpetually invigorated by."

Baumeister der Brücken und Bahnhöfe

Als weitere Einflüsse nennt er auch Alexander Calder, Frank Stella und Henry Moore. Dieser habe Skulptur mit Architektur verglichen und darauf hingewiesen, dass erstere Kunstform zwar freier sei, letztere aber durch das menschliche Maß definiert werde und somit ersterer überlegen sei. Ein Gebäude könne betreten werden und es umschließe einen, anders als eine Skulptur. Dieses Erlebnis habe man auch beim Betreten einer Kathedrale. Auch bei Taschen erhältlich ist eine limitierte Art Edition von 300 Exemplaren, mit zwei signierten Lithografien von Santiago Calatrava und einer maßgefertigten Box. Die vorliegende Monografie erkundet Calatravas Bauwerke anhand detaillierter Einträge, Fotografien und seiner unverwechselbaren Aquarellskizzen. Der XXL-Band umfasst sowohl Dokumentationen zu früheren Gebäuden wie den Bahnhof von Mediopadana in Reggio Emilia aber auch das Museum of Tomorrow in Rio de Janeiro sowie jüngste Projekte wie den Pavillon der Vereinigten Arabischen Emirate für die Expo 2020 in Dubai, St. Nicholas Greek Church am Ground Zero in New York und die Skultpur Constellation im River Point Park in Chicago.

Autor Philip Jodidio studierte Kunstgeschichte und Wirtschaftswissenschaften in Harvard und war über zwei Jahrzehnte lang Chefredakteur der französischen Kunstzeitschrift Connaissance des Arts.