Feinde, überall!
"Welcher normale Mensch würde sein Leben verfilmt sehen wollen?", stellt sich Sten, der ausgediente Marine und pensionierte Schuldirektor, selbst die Frage, nachdem sich Journalisten vor seinem Haus zu einer gierigen Meute zusammengerottet haben und ihn belagern. Er hatte in Vietnam gedient und nun war dieses Vietnam nach Hause gekommen, denn sein Sohn Adam - "das Produkt einer älteren Mutter, einer alten Mutter" - war über Nacht zu einem Vietcong geworden, einem Polizistenmörder und selbsternannten "Waldläufer". Oder vielmehr zu John Colter, einer imaginierten Persönlichkeit aus Groschenromanen und Pulps, den sein Sohn so bewundert, und der gegen die Blackfoot Indianer gekämpft hatte, wie Sten gegen die Vietcong.
In der bizarren Welt seines Sohnes Adam werden die anderen Menschen allesamt zu Feinden, "Aliens". Kleinkinder bezeichnet er gar als "kreischende Miniaturfeinde", am meisten aber hasst er die Chinesen, die ebenso wie die Indianer über die Beringstrasse in seine Heimat gekommen waren und eigentlich Fremde hier seien. Adam flüchtet in den Wald, verschanzt sich und kämpft gegen seine Gesellschaft, seine Gemeinschaft. Sten, der einst gefeierte Held, muss schließlich das ernten, was er gesät hat: Gewalt. Denn wer nach dem Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. (Matthaeus 26:52)
Colter, Cops und die Chinesen
"Adam" steht für Amerika, ein Amerika, das sich selbst abschlachtet und auffrisst und mit dem Finger auf die vermeintlichen Eindringlinge zeigt, seien es die Chinesen oder die Mexikaner, die illegal über die Grenze kommen. Die Mexikaner sind die Bösen, die alles zerstören, den Wald und seine Lebewesen vergiften, um ihre dunklen Drogengeschäfte möglichst profitträchtig abzuwickeln und der Wald wird zu einem neuen Dschungel, in dem die Guten gegen den Vietcong kämpfen, um die Freie Welt zu retten. Boyle bringt es sarkastisch auf die Gleichung "unser Wald gehört uns" und bald schon werden T-Shirts mit dem Aufdruck UWGU in Umlauf gebracht. Aber tatsächlich sind es nicht die Mexikaner, sondern die eigenen Kinder, die den Wald zerstören und dort Drogen anbauen. "Diese toastbraunen Opiumkügelchen waren seine Biberfelle, das moderne Gegenstück zu Colters Pelzen: sie würden ihn unabhängig machen", so Adam in seinem ganz eigenen Überlebenskampf in seiner ganz eigenen Welt. Die Alliteration - die in der deutschen Übersetzung leider die Cops zu Bullen macht und dadurch als solche nicht mehr funktioniert - ist eines von vielen stilistischen Mitteln, mit denen Boyle seine Roman aufpeppt.
Die Frauen und die Biber
Besonders interessant sind aber auch die Rollen, die Boyle den Frauen in seiner Geschichte zuteilt, denn die Männer leiden durchwegs unter ihren verqueren Männlichkeitsidealen. "Wenn man nicht ab und zu alles rauslassen konnte, war man dem anderen gar nicht wirklich nahe - das war es doch, was eine intime Freundschaft ausmachte: dass man in die Tiefe ging, in die Haut des anderen schlüpfte, seine guten und schlechten Eigenschaften sah", definiert Sara ihre Freundschaft zu Christabel und diese musste sie in der Vergangenheit nicht nur einmal mit Kaution wieder freisetzen. Sara ist ebenso paranoid wie Adam, sie spricht immer von der "illegitimen Regierung des Amerikas der Konzerne" und widersetzt sich Polizisten bei einfachen Routinehandlungen wie Führerscheinkontrollen oder befreit ihren Hund Kutya, einem weißen Puli, mit Dreadlocks aus dem Polizeigewahrsam. Carolee wiederum, die Mutter von Adam war mit 39 eigentlich zu alt, um schwanger werden - so Sten - aber Boyle will damit vielleicht ihr die Schuld an Adams "Störung" in die Schuhe schieben? "Das Reden schien alles nur noch schlimmer zu machen, aber wirklich unerträglich war das Warten", so fühlt Carolee die Ungelöstheit des Konfliktes. Die Frauen warten in "Hart auf Hart" auf ihre Männer und kochen ihnen immer ein Süppchen oder erwarten sehnsuchtsvoll ihre Umarmungen. Und so geben sich Erkenntnisse über den "Biber" und andere Vulgaritäten und kraftstrotzende Ausdrücke über die nonverbale "Kommunikation und Kommunion der Körper" in diesem Milieu die Hand.
"Demasiado" oder die drei Oliven
"Die Tiere starben, der Himmel war wie eine Wunde und alles hatte ein Preisschild", denkt sich Adam im Vergleich von seiner Wirklichkeit mit der von seinem Vorbild John Colter, der damals sogar den Blackfoot entkommen konnte. Immer wieder webt Boyle die Geschichte des "real Colter" in seine Erzählung ein und diese Passagen lesen sich tatsächlich sehr spannend und aufregend, ist dieser Colter doch die meiste Zeit verletzt und dennoch ganz agil vor irgendetwas auf der Flucht. Ganz so wie Adam eben. Das geschickte Konzept Boyles, zwei Handlungen Kapitel für Kapitel nebeneinander zu erzählen, um damit die Spannung für den Leser aufrechtzuerhalten, wird durch diese dritte Erzählebene, die im 19. Jahrhundert spielt, noch verstärkt.
Aber auch die Rückblende der Pizzeriaszene (Piero’s) wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, um Leser daran auch in echt teilhaben zu lassen. Schließlich gibt es nicht nur eine Version einer Erzählung, sondern viele. "The harder they come", eigentlich ein Songtitel von Jimmy Cliff aus dem Jahre 1972 steht ebenso über dieser Handlung wie das D.H. Lawrence Zitat über die gewalttätigen Amerikaner. "So as sure as the sun will shine", singt Jimmy, "I’m gonna get my share". "Demasiado" wiederum, was auf Deutsch "zu viel" bedeutet steht im Kontrast zur "Oliven separat" Bestellung von Carolee: weniger Oliven im Gin bedeutet eben mehr Gin. Die mythische "Frontier" ist erreicht, das amerikanische Jahrhundert zu Ende gegangen. Jetzt kommt wieder die Welt nach Amerika.
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