Wie sakrale Kunst berühren kann – Die Hildesheimer Bernwardsäule
Vor der Bernwardsäule im Dom zu Hildesheim verharren Gläubige ebenso schweigend wie staunend. Auch Besucher, die nicht dem christlichen Glauben verbunden sind, schenken dem von 2010 bis 2014 sanierten Dom, der zum UNESCO-Welterbe zählt, ein aufmerksames Interesse und verweilen interessiert und bisweilen demütig vor solchen Zeugnissen der Kirchen- und Glaubensgeschichte. Die Bernwardsäule, in diesem Band von Michael Brandt mit großer Sachkenntnis vorgestellt, zeigt Spuren der Frömmigkeit, die in das 11. Jahrhundert zurückreichen und auch mit der Gegenwart eng verknüpft sind. Auf gewisse Weise lässt sich sagen, dass die Glaubensgeschichte in der Anschauung heute fortgeschrieben wird, oft auf eine ganz unbemerkte, verborgene Weise, nämlich dann, wenn sich die Gäste im Dom von dem Kirchenraum und seinen Schätzen ansprechen und von innen her berühren lassen – wie dies auch der Hildesheimer Weihbischof Heinz-Günter Bongartz in seinen lichtreichen, empfehlenswerten Büchern oft gezeigt hat.
Brandt schreibt, die Bronzesäule erhebe sich "wie ein Denkmal" im Südquerhaus des Hildesheimer Domes, dem Kopfreliquiar des heiligen Bernward gegenübergestellt. Doch begründet darf angenommen werden, dass die Säule, die der Bischof zu Beginn des 11. Jahrhunderts für die damalige Klosterkirche St. Michael bestimmt hatte, mitnichten ein monumentales Zeugnis für die Christentumsgeschichte in Norddeutschland ist. Michael Brandt spricht von einer "musealen Aufstellung", bemerkt aber zugleich: "Umso erstaunlicher ist die Suggestivkraft, mit der das aus seinem ursprünglich intendierten Zusammenhang gerissene Säulenmonument die Betrachter nach wie vor in den Bann zieht: durch seine schiere Größe, durch seine Materialität, sein hohes Alter von nahezu 1'000 Jahren und durch die Expressivität seiner in Erz gegossenen Bilder." Profan ausgedrückt: Die Attraktivität der Säule besteht fort – und sie reicht, so scheint es, weit über den Bereich des Säkularen hinaus. Verhielte es sich anders, so hätte die Bernwardsäule auch gewiss im Dommuseum platziert werden können und nicht in dem sakralen Raum, in dem die Feiern der heiligen Geheimnisse der Liturgie begangen werden.
Brandt erläutert – mithilfe der kostbaren Fotografien von Frank Tomio auch für den Leser, der nicht die Möglichkeit hat, in Hildesheim vor Ort die Säule sich meditativ anzuschauen – den neutestamentlichen Bilderzyklus, die Bilderreihe, "die den 3,76 m hohen Schaft spiralig umspannt". Alle vier Evangelien werden berücksichtigt. Die Bilder 3 und 4 berichten von der Berufung der ersten Jünger Jesu am See von Galiläa: "Eine Hildesheimer Besonderheit ist der Mast mit dem Segel … Ihre eigene Qualität gewinnen die Hildesheimer Reliefs durch die dramatische Steigerung, die das Geschehen in der Aufwärtsbewegung des Bildstreifens erhält. Im ersten Bild sind die Gebärden des Messias und der angesprochenen Jünger noch verhalten. Im zweiten Bild dagegen geht es ums Ganze." Christus halte, als "Attribut seines öffentlichen Wirkens" als Messias, das Buch "aufgeschlagen", als appellierte er an die Jünger – und vielleicht auch, so denkt der Betrachter, an die Christen und Suchenden, die vor der Säule verharren. Die Jünger antworten "mit erhobener Hand": "Damit ist auf ganz neue Art die Radikalität der Berufung zum Ausdruck gebracht, von der Matthäus berichtet. Wie im Evangelium wollen die beiden Berufungen nicht als Einzelepisoden erfasst werden, sondern als ein sich steigernder Geschehensablauf." Wer theologisch darüber nachsinnt, mag zu einem weiteren Gedanken gelangen – wären die Kirchen, so auch der Dom zu Hildesheim, nur Museen für abendländische Kulturgeschichte, so könnten diese Bauten staatlichen Verwaltungen übergeben werden. So aber erzählen die Kirchen – und gerade auch die Säule des heiligen Bernward – von einem lebendigen Glauben, der sich von den Evangelien über die Baugeschichte bis in die Gegenwart fortgesetzt. Fühlt sich der Betrachter angesprochen? Vielleicht berührt? Gerät er ins Nachdenken? Bleibt er bei einer kunstgeschichtlichen Anschauung? Wie weit reicht dieses durch Kunst in der Kirche hervorgerufene Staunen? Niemand muss darüber Buch führen oder den möglichen Spuren nachgehen. Die Geschichten, die die Bernwardsäule erzählt, sind mehr als nur Geschichten. Sie drängen sich nicht auf, aber sie regen an – und führen vielleicht zu geistlichen Vertiefungen.
Die Säule zeigt einen Weg des Evangeliums auf, aber nicht das Ganze der Botschaft des Neuen Testaments. Die Tage von der Einsetzung der Eucharistie über die Kreuzigung und den Tod Jesu bis zur Auferstehung bleiben ausgespart – aber der Weg wird angedeutet. Mit dem "triumphalen Einzug" Jesu in Jerusalem endet die Bilderfolge der Bernwardsäule, die mit der Taufe im Jordan begonnen hat: "So wie der Dienende im Eingangsbild der Taufe, sind es nun die Menschen vor den Toren Jerusalems, die dem Heiland die Ehre erweisen. Die Palmzweige der huldigenden Menge lassen darauf schließen, dass der Darstellung die entsprechende Matthäus-Perikope zugrunde liegt, wie sie am Palmsonntag verlesen wurde." Der Einzug Jesu werde zu einem "Aufstieg, der in Jerusalem ende" – und auf das Kreuz zuführe. Immer wieder wird Jesus in "betonter Frontalität" gezeigt.
Leserinnen und Leser mögen mit einem großen kunstgeschichtlichen Gewinn diesen Band studieren, aber niemandem bleibt es verwehrt – und so sei dies abschließend über dieses lesenswerte Buch gesagt –, trotz allem eine gewisse Indifferenz gegenüber der Geschichte, auch der Kirchengeschichte zu bewahren. Wir erinnern uns auch bei der Betrachtung an Kunst selten an das Leben derer, die die Kunstwerke geschaffen haben, oder an die historischen Begebenheiten im Umfeld. Aber wir vergessen nicht besondere Momente. Wer die Bernwardsäule im Hildesheimer Dom betrachtet hat, wird vielleicht auch weiterhin daran denken, dass Christus die Menschen anschaut – und dies heute nicht weniger als zu den Zeiten des Hildesheimer Bischofs Bernward. Von unvergesslichen Momenten der inneren Berührung berichtet dieser Band eher beiläufig, am Beispiel der Reliefs und Bilder, aber der eine oder die andere mag bei der Lektüre dieses Buches oder beim Gang durch den Dom zu Hildesheim eine innere Erfahrung machen, die ganz unerwartet kommen mag. Bernwards Säule ist, wie Michael Brandts Buch zeigt, auch eine Art Tür – sie führt zu einer Anschauung des Evangeliums, zu einem Schauen auf Christus. So kann die sakrale Kunst der Kirchengeschichte in unsere ganz persönliche Gegenwart hineinsprechen.
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