Franz Michael Felder: Aus meinem Leben

Autobiografische Literatur in ihrer besten Ausformung

"Fähigkeiten, Ansehen und Wohlstand werden jedem das Maß seiner Bahn, und wehe dem, der sich über die gesetzte Grenze hinauswagt". Franz Michael Felder (1839-1869) wurde in Schoppernau im Bregenzerwald als Bauernsohn geboren. Aber wie er schon auf den ersten Seiten seiner 1868 entstandenen Biografie schreibt, hielt man jeden Felder "für einen etwas wunderlichen Kauz, für einen Sonderling". Seine Andersartigkeit: er wollte lesen.

Der lesende Rebell aus Schoppernau

Mit seinen Romanen "Nümmamüllers und das Schwarzokaspale", "Sonderlinge" und "Reich und Arm" hatte Felder schon in den Sechzigern des 19. Jahrhunderts für Aufsehen gesorgt. Denn er war ein sogenannter Volksaufklärer und Sozialrevolutionär und hatte sich für die Sache der Seinigen, die Bauern, eingesetzt. 1866 hatte er mit seinem Schwager die frühsozialistische „Vorarlberg’sche Partei der Gleichberechtigung“ gegründet. Als Bauer setzte er sich unermüdlich für verbesserte Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft ein und gründete einen Käsehandlungsverein, um das Handelsmonopol der berüchtigten Käsgrafen zu brechen. So hatte er sich nicht nur die Reichen, sondern auch den mit ihnen verbündeten Klerus zum Feind gemacht. Als er seine große Liebe, die "Nanni" heiratet und mit ihr fünf Kinder bekommt, scheint sein Leben eine positive Wendung zu bekommen. Denn aufgrund eines sogenannten Kunstfehlers hatte er schon früh ein Auge verloren, sehr früh aber auch seinen Vater, was ihn dann in die Rolle des Bauern zwang. Dabei wäre er lieber Schriftsteller geworden. Zeit seines Lebens wollte er nur lesen und fand schließlich doch noch einen Weg zu schreiben und sein eigentliches Lebensziel, Schriftsteller, zu erreichen. Als seine junge Frau viel zu früh verstarb, begann er mit der Niederschrift seiner Autobiographie, die unter dem Titel "Aus meinem Leben" (1868) erst vom Libelle-Verlag nun von Jung und Jung veröffentlicht wurde. Leider verstarb der erst dreißigjährige Autor nur ein Jahr später an einer Lungentuberkulose. Ein unschätzbarer Verlust für die Welt der Literatur, aber wohl auch für die Menschheit. Denn wer seine Zeilen liest, begreift bald, dass hier ein Ausnahmetalent voller Zärtlichkeit und Empathie schreibt, wie es wohl noch kein anderer vor ihm tat.

Der Riss, der Wurm des Zweifels

Sich aufgrund seines Lesehungers selbst als Sonderling zu beschreiben, ist angesichts der Analphabetenquote seiner Zeit wohl kaum als Koketterie zu bezeichnen. Denn wer damals mehr als die Schlagzeilen einer Zeitung las, gar Bücher!, galt als Sonderling par excellence. Mit großer Authentizität beschreibt er im Buch, wie er die erste Zeitung abonniert. Damals galt in der Welt der Bauern das allein schon als ein Akt der Rebellion. Außerdem verbrachte er als Jugendlicher mehr Zeit mit den Mädchen, da ihm das "ungehobelte Wesen der Burschen recht von Herzen zuwider war", wie er an einer Stelle gütlich schreibt. Auch bezüglich dem Schlachten von Tieren äußert sich Felder für seine Zeit untypisch sehr kritisch. Zudem trägt sein Verhältnis zu Gott durchaus sehr moderne, antiklerikale Züge. "Es ist zum Sprichwort geworden: Not lehrt beten. Mich aber hat die Not nie recht fromm, das Unglück nur verschlossen und trotzig gemacht." Als sein Vater stirbt, dem er stets in Wehmut gedachte, übernimmt er wider Willen die Verantwortung für Haus und Hof. "Auch um uns herum war es seit dem Tode des geliebten Vaters überall Nacht." Für seine eigene Trauer findet er poetische Worte: "Ausklingen muss der Schmerz im Herzen wie eine geschlagene Glocke, die leicht zerspringt, wenn man sie zu schnell mit einem fremden drückenden Gegenstand in Berührung bringt." Oder: "Zuerst war es uns immer gewesen, ob er unsichtbar noch um uns sei, jetzt aber empfanden wir es immer und überall, dass er uns fehlte." Dabei war er erst zehn! "Im zehnten Lebensjahr litt ich die furchtbarsten Qualen eines Zweifels, der auch Erwachsene recht, recht unglücklich hätte machen müssen." Bald verliert Felder also seinen Glauben und gibt den Büchern die Schuld für seine Ausnahmestellung als Sonderling. Der "Wurm des Zweifels" war auf einer Reise nach Schwarzenberg in ihn gekommen und sollte ihn nie mehr verlassen.

Liebe: Triumph über den Wurm des Zweifels

Des öfteren spricht er diesbezüglich auch von einem "Riss". Aber durch die ob ihrer Lesekundigkeit entfachten Liebe zu Nanni, "sein Wible", erwächst neue Hoffnung in ihm. "(...)während früher durch alle meine Arbeiten hindurch der Riss ging, den ich auch auf meinem Lebenswege mir immer entgegengehen sah" erfährt er nun, durch die Liebe zu Nanni, endlich das Glück, sich selbst mehr zu lieben, "seit ich mich von ihr geliebt glaubte". Als er wieder einmal mit ihr auf der Ofenbank bei der Stubat sitzt, fallen ihm zur Beschreibung dieses unendlichen Glücks folgende Worte ein: "Ungemessen rauschte die Zeit hier vorüber und nur von den Forderungen des Augenblickes war die Tagesordnung bestimmt." Zu sagen hatten wir uns immer etwas, schreibt er weiter, alles war wichtig. Eine Arte Genugtuung verschafft es ihm dann auch, dass er den ihm von der öffentlichem Meinung des Dorfes vorgezeichneten Lebensweg doch noch verlassene konnte. Denn alle hatten ihn gewarnt, dass er aufgrund seines Lesens und seiner eigenbrötlerischen Art "einsam leben, tolle Streiche machen und nach und nach allen Leseliebhabern zum warnenden Beispiel ein Lümmel werden" würde. Sozialkritisch schreibt er über das Leben im Dorf: "Es war mir klar, dass jeder an den gesellschaftlichen Zuständen trägt. Die geistige Arbeit galt nichts. Aufgeklärte wollte man keine, damit ja keine Dorfgröße ihr Ansehen verliere und der Taler fürderhin allmächtig sei." Vor dem Hintergrund der 48er-Revolution und dem Krimkrieg 1859 entfaltet sich ein Panorama des bäuerlichen Lebens, das so modern erscheint, als hätte Felder es heute geschrieben. 

Das Glück des Lesens und Lebens

Seine Mutter beschrieb ihn mit den Worten "Am Lernen und Grübeln und Sinnen hatte er immer seine größte Freude gehabt". Seine Freude als er bei einem Spaziergang erstmals allein im Nebel eines Jochs ist, ist so eindringlich geschildert, dass sie förmlich spürbar wird. Als er seine Frau Nanni kennenlernt ist die Aufregung darüber so gut beschrieben, dass man sich selbst wieder verliebt, wenn auch nur in seine wunderschönen Worte und lieblichen Sätze voller Enthusiasmus und Ehrlichkeit. Das Glück des Lesens beschreibt Felder so: "Jetzt war ich nicht mehr einsam, das Unendliche hatte sich vor mir aufgetan in göttlicher Herrlichkeit. Heilige Freudenschauer durchzitterten mich, und ich war so fromm und glücklich wie früher in der Kirche. So ganz war noch kein Buch für mich geschrieben gewesen." Vielheit in der Einheit, ein Humboldtsches Diktum, verwendet Felder zur Beschreibung der Kleingeistigkeit der Dorfbewohner, die ihm seine Belesenheit nachtrugen. Aber er erkannte schon früh, dass wir uns nicht spalten können, da wir alle denselben Ursprung haben. Einheit in der Vielfalt. Franz Michael Felder schrieb poetischen Realismus in Reinform, autobiografische Literatur in ihrer besten Ausformung, ehrlich, authentisch, gefühlvoll. Keine Jeremiade, sondern eine Huldigung an das Glück des Lebens und die Liebe zur Schöpfung, vor allem aber ein reißender Appell, sich von niemandem und nichts unterkriegen zu lassen. Denn was 1848 galt, gilt auch heute noch: Friede den Hütten, Krieg den Palästen.

Aus meinem Leben
Aus meinem Leben
Nach der handschriftlichen Fassung aus dem Nachlass
392 Seiten, gebunden
EAN 978-3990274095

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