Egon Krenz: Aufbruch und Aufstieg

Einblicke in das Zentrum der politischen DDR

Egon Krenz, langjähriger führender Fuktionär der Freien Deutschen Jugend (FDJ), letzter Generalsekretär des ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) als auch letzter Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates sowie kurzzeitiger Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik (soviele Formalia müssen sein) verfasste 2022 den ersten Teil seiner Memoiren. Er selber nennt sie Erinnerungen. Dass diese es in die Ränge eines Spiegel-Bestsellers in der Bundesrepublik Deutschland schafften, gilt nicht zwingend als ein gutes Zeichen. In diesem Falle ist es aber ein solches. Ein gutes Zeichen. 

Erwähnenswert erscheint, dass der wörtlich zu nehmende 'Rechts'staat BRD, welcher ehemalige sowie heutige Nazis tendenziell mit Nachsicht oder gar nicht negativ wahrnahm und -nimmt, Egon Krenz nach jenem als Wende bezeichneten Umsturz in der DDR, mancher Zeitgenosse nennt es auch Konterrevolution, meinte, juristisch verurteilen lassen zu müssen. Politisch motiviert unter dem Deckmantel des oben erwähnten Rechts als Teil des Überbaus der kapitalistischen Verhältnisse. Das wird im vorliegenden ersten Teil allerdings nur rudimentär erwähnt. 
Diese Erlebnisse mit unsäglicher Siegerjustiz der BRD kamen dann chronologisch später im Leben des Autors, was wohl im noch folgenden Band genauer thematisiert werden wird. Verurteilt wurde Egon Krenz übrigens, weil er auf der - nach der Meinung jener Urteilenden - falschen Seite stand. Nicht auf siegreicher Seite, die dem Kapital als gesellschaftlich entscheidender Faktor huldigt. Passt aber in das Selbstverständnis einer Bundesrepublik Deutschland: Denn der ehemalige Staatsratsvorsitzende repräsentierte eine Republik, die den ökonomisch Herrschenden, den Eignern der (Gross-)Konzerne und anderen Ewiggestrigen nicht genehm war - und selbstverständlich auch im Hinblick ihrer historischen Einschätzung nicht ist.

In diesem Kontext schlägt dann zeitnah das Zentralorgan 'unserer' Mächtigen in der BRD, der konsvervativen Richtung der Interessen des Geldes, die FAZ, zu. Als "Märchenerzähler aus dem Osten" beginnt die Beschimpfung des Autors. Ebenso trifft es die UdSSR, sozusagen das politische Vorbild von Krenz. Die SU wird polemisch und sachlich verfälschend verunglimpft als "seit ihrer Gründung nun gerade nicht dafür bekannt (...) (gewesen zu sein), auf Integration, Verständigung und Frieden zu setzen" (Stefan Locke, Es war einmal, FAZ, 01.11.2022). Wer schaffte denn Frieden in so vielen Teilen der Welt? Wer verhinderte den von den USA schon geplanten Atomkrieg durch vorausschauendes Nachgeben während der von den Vereinigten Statten initiierten, sogenannten 'Kuba-Krise'? Wem gelang die Integration so vieler Völker in der staatlichen Rahmung der Sowjetunion? Das sei am Rande gefragt.
Unsachlich, hasserfüllt ist nicht alleine die Wahrnehung der autobiographischen Veröffentlichung Krenz seitens der FAZ. Auch ein Nobert F. Pötzl von der Süddeutschen Zeitung (24.07.2022) gibt sich wütend darüber, "dass ein Machwerk wie dieses die Bestsellerliste stürmen kann". Viel Feind - viel Ehr. Man muß es halt so erwarten im Mainstream der BRD. Gewisse Kreise ängstigen sich noch immer vor einer Alternative zu ihren - sicherlich nicht immer homogenen - Vorstellungen der Gestaltung der Welt unter der Knute weniger Nutznießer der Marktwirtschaft genannten kapitalistischen Verhältnisse. 
Was hatten und haben sie Angst, die jubelnden Verwalter des Untergangs des auch deutschen Versuchs, einen anderen Weg als den ihrigen zu ihren Vorstellungen über die Verteilungen von Ressourcen der Welt zu implementieren. Das war schon so, als die Deutsche Demokratische Republik noch existierte und reicht bis in die sich intellektuell sowie aufgeklärt gebenden Feuilletons der heutigen Zeit. 

Egon Krenz versucht erfolgreich, sicherlich nur an wenigen Stellen als eitel zu bezeichnen, Inhalte seines politischen als auch privaten Lebensweges zu beschreiben und zu erklären. Wer mag schon, alle als möglicherweise kritisch zu hinterfragenden Punkte anzusprechen, wenn man sich einem solch einseitigen Bashing meinungsmonopolistischer Medien ausgesetzt sieht? 

Der erste Teil des in der Eulenspiegel-Verlagsgruppe erschienenen, 286 Seiten umfassenden Buches thematisiert den Werdegang des bis heute unbeugsamen Nichtwendehalses und Kommunisten von seiner Kindheit bis zum Tode des langjährigen 'starken Mannes' der DDR, Walter Ulbricht.
Krenz, Jahrgang 1937, der in sehr jungen Jahren noch die ursprünglichen, Nazis genannten Faschisten des sogenannten Tausendjährigen Reiches (Dauer: Knappe zwölf Jahre; Ergebnis: Alleine weit über 20 Millionen Tote in der überfallenen UdSSR) kennenlernen musste, stellt gleichermaßen emotional als auch sachlich seine kindlichen Erlebnisse dar. Diese Erfahrungen hatten sicherlich einen (mit)entscheidenden Einfluss auf dessen spätere politische Karriere als auch auf seine entsprechende weltanschauliche Überzeugungen, die er übrigens nicht, wie einige Politiker der SED nach den Ereignissen des Jahres 1989, wie einen alten Mantel ablegte. Seine Mutter, von ihm als eigentlich völlig unpolitisch beschrieben, entschied sich 1947 für Dammgarten statt Sylt als Wohnort. "Ihrer Tochter sagte sie zur Begründung: 'Bei euch regieren ja immer noch die Nazis'. ... Meine Mutter (...) konnte 1947 [nicht] wissen, dass der Bürgermeister von Westerland auf Sylt von 1951 bis 1964 Heinz Reinefarth heißen würde. ... Unter seinem Befehl [als Waffen-SS-Verbrecher] waren [1944] bis zu 50'000 Polen erschossen worden". Mit dieser Entscheidung seiner Mutter wurde sozusagen nicht alleine die georaphische Verortung seines späteren politischen Lebens in der ostdeutschen Republik manifestiert. 

Egon Krenz gelingt es, die verschiedenen Facetten seines folgenden offiziellen als auch privaten Lebens komprimiert aber verständlich und anschaulich darzustellen. Die nicht wenigen heiklen, sicherlich als Fehler bewertbaren politischen Entscheidungen der Verantwortlichen der DDR werden im Zuge dessen nicht ausgeklammert. Dass allerdings beispielsweise jener vielbeschworene 17.06.1953, im politischen Alltag als auch in der hegemonialen Geschichtsschreibung der BRD als Volksaufstand deklariert, seitens Krenz eine etwas differenziertere und damit andere Bewertung erfährt, sollte nicht verwundern: "Ein 'Volksaufstand'? Als bekannt wurde, dass die Aufständigen in Halle eine ehemalige KZ-Aufseherin aus dem Gefängnis geholt und in einer Stadt im Bezirk Postdam einen SED-Funktionär barbarisch ermordet hatten, sagte ich mir: so etwas macht kein vernünftiger Arbeiter." Etwas später fragt Krenz nicht zu unrecht: "Warum sprachen sie eigentlich nicht über die Rebellionen im Westen, die es in der Nachkriegszeit dort ebenfalls gab?" 

Auch einige Jahre später aufkommende Selbstzweifel hinsichtlich seiner eigenen politischen Überzeugungen verschweigt der Verfasser nicht: "Mir kamen zum ersten Mal Zweifel, ob das, woran ich glaubte, auch richtig sei. Schuld war der XX. Parteitag der KPdSU." Jener Parteitag also, auf dem vor allem auch die Rolle der langjährigen kommunistischen Führungspersönlichkeit, Josef Stalin, mehr als kritisch hinterfragt wurde und einige Fundamente der politischen Überzeugungen einstürzen ließen. 

Nicht alleine für historisch Interessierte ist insbesondere der inhaltliche Konflikt zwischen Erich Honecker und Walter Ulbricht äußerst interessant, dem Krenz auch hinsichtlich seiner eigenen Rolle und seiner Zerrissenheit ein eigenes Kapitel widmet. "Im November 1970, inzwischen seit drei Jahren wieder Sekretär des Zentralrats [der FDJ], geriet ich ahnungslos zwischen Ulbricht und Honecker." Es ging um die im sozialistischen Lager kontrovers diskutierte Devise "überholen ohne einzuholen" in Bezug auf die Systemauseinandersetzung mit dem Westen. 

Das, wie weiter oben erwähnt, keine 300 Seiten aufweisende Buch beinhaltet ein 35-seitiges Personenregister. Nicht mit allen von Krenz genannten Personen muss und kann man zwingend vertraut sein. Eine Reihe von öffentlichen als auch privaten Photos, die der Autor offensichtlich als relevant erachtet, lockern zwar das Buch ein wenig auf, sind allerdings eher als überflüssige Beigabe zu sehen. 

Letztendlich kann dieser erste Teil der Autobiographie des ehemaligen Funktionärs der DDR nicht alleine aufgrund der gewährten Einblicke in das Zentrum der politischen DDR als sehr empfehlenswert bezeichnet werden. Es bietet Sichtweisen, die in unseren Einheitsmedien nur noch selten gibt. Dass das Buch auch von politischen Gegnern rezipiert wird, zeigen ja nicht alleine die oben erwähnten Beispiele von FAZ und SZ. 

Aufbruch und Aufstieg
Aufbruch und Aufstieg
Erinnerungen
352 Seiten, gebunden
EAN 978-3360028051

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