Napoleon: Neubewertung einer zwiespältigen Figur
Der schon mit "Napoleon und die Schweiz" (2023) und "Napoleon und Bayern" (2015) aufgefallene Historiker Thomas Schuler legt in dem vorliegenden Buch über den Franzosenkaiser eine völlig neue Lesart vor, die besticht. Ganz nebenbei erfindet er auch eine neue Annäherung an Geschichte, die jüngere Generationen wieder dafür begeistern könnte: embedded historiography.
British Empire gegen le premier Empire
Denn Thomas Schuler hat sich selbst auf Napoleons Spuren auf eine Reise durch Europa aufgemacht, mehr als 200 Jahre später, und so einen sehr persönlichen Zugang zu den historischen Ereignissen gewählt. Anlässlich des 250. Geburtstags – der Band erschien erstmals 2019 – bereiste er einige der wichtigsten Stationen des Feldherrn in Europa und machte sich vor Ort selbst ein Bild. Natürlich sprach er auch mit Nachkommen von Zeitzeugen und zog andere wichtige wissenschaftliche Quellen heran, denn Thomas Schuler beschäftigt sich schon seit mehr als 25 Jahren mit dem Kaiser der Franzosen und gilt als einer der führenden Napoleon-Experten Deutschlands. Entgegen dem weit verbreiteten Geschichtsbild, das Napoleon in die Nähe Hitlers rückt, zeigt Schuler, dass es eigentlich die britische Weigerung war, Frieden mit Frankreich zu schließen, durch die die sog. „napoleonischen“ Kriege über mehr als 20 Jahre Europa überzogen.
Napoleon hatte vielmehr den Frieden von Amiens (1802) geschlossen. „Der erneute Kriegsbeginn im Mai 1803 durch einen Überfall auf alle in englischen Häfen liegenden französischen Handelsschiffe war daher ganz klar wirtschaftlich motiviert“, schreibt Schuler. Die Koalitionskriege gegen Napoleon hätten allein das Ziel gehabt, das britische Weltreich in seiner damals unbestreitbaren Größe zu erhalten: Das British Empire umfasste noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Viertel der Erde und war in seiner Ausdehnung größer als das Imperium Romanum oder die Sowjetunion. 458 Millionen von 1656 Millionen Weltbevölkerung standen im Jahr 1900 unter der Herrschaft Londons, das seine Vormachtstellung in Europa und der Welt auch mit einer entsprechenden Geschichtsschreibung zu rechtfertigen versuchte. Wenn man die Revolutionskriege von 1792–1802 also ausklammert und die Koalitionskriege den Briten zuschreibt, blieben nur noch der Russlandfeldzug und Spanien als tatsächliche Eroberungskriege übrig, so Schuler. Als gesichert gilt jedenfalls, dass die Monarchien in Europa einen Emporkömmling wie Napoleon, der sich selbst die Kaiserkrone vor und nicht vom Papst aufsetzte, nicht gerne sahen.
Kleiner Mann ganz groß
Thomas Schuler besucht in seiner Monografie als Erstes den St. Bernhard, weil das wohl prächtigste Gemälde, das von Napoleon erhalten ist, genau die dortige Überquerung über die Alpen zeigt. Stolz auf seinem weißen Ross Marengo sitzt der Weltenbezwinger auf diesem Gemälde Jacques-Louis Davids (1748–1825), des Haus- und Hofmalers der Französischen Revolution und Napoleons. Dass Napoleon wahrscheinlich eher auf einem Esel die Alpen bezwang, zeigt ein anderes Gemälde des Malers Paul Delaroche, das vom Earl of Onslow beauftragt worden war. Propagandaschlachten gab es also schon damals, wie nicht nur diese kleine Anekdote beweist, die Schuler den Lesern zur eigenen Beurteilung auch als Fotos in seinem Buch zur Verfügung stellt.
Nach Regensburg begibt sich der Leser natürlich auch in die Lagune nach Venedig, deren Herrschaft der „Attila Venedigs“ nach mehr als 1000 Jahren endgültig beendete. Für einige war dies durchaus ein Segen: Die Staatsgefängnisse der Republik wurden geöffnet, Venedig bekam einen öffentlichen Park, die Giardini (Napoleonici), und das jüdische Ghetto wurde aufgelöst. Die Juden konnten nun wie andere frei einen Beruf wählen, Grundbesitz erwerben und ihren Wohnort frei bestimmen. Alle diese Freiheiten wurden von den Österreichern allerdings postwendend wieder aufgehoben und durch ein Spitzelwesen ersetzt, von dem auch die Kommunisten des 20. Jahrhunderts lernten. In Venedig wurde auch ausgerechnet jener Papst gewählt, der später Napoleon zum Kaiser krönen sollte. Pius VII. exkommunizierte Napoleon allerdings auch wieder.
Eines der beeindruckendsten Kapitel ist sicherlich „Moskau“, in dem Schuler nicht nur die gespenstische Einnahme der Stadt beschreibt, sondern auch die Flucht der Grande Armée über die Beresina. Weitere Kapitel widmen sich den Aspekten napoleonischer Herrschaft in London, Paris, Berlin, Kaub und Waterloo. Kunstgeschichtliche Exponate sowie eine Vielzahl von Details und Anekdoten ergänzen das Narrativ über den General, Konsul und Imperator, dessen Lieblingspferd Marengo heute noch im National Army Museum in London steht – als präpariertes Skelett.
Selbst die Musealisierung des Schlachtfeldes von Waterloo inspizierte Schuler und schildert eindringlich die Grausamkeit des Krieges, aber auch die Methoden der Propaganda, die es damals schon gab. Waterloo fand nämlich in Mont-Saint-Jean statt – eine Wegstunde bzw. acht Kilometer von Waterloo entfernt. Waterloo reimte sich einfach besser auf Wellington. Waterloo gilt aber auch als Beginn des organisierten Tourismus, vor allem für englische Besucher, den sich Reiseunternehmenspionier Thomas Cook schon ab 1854 zunutze machte. Heute sind es immer noch jährlich 180.000 „Schlachtenbummler“, die den Ort besuchen, wo Napoleon seine letzte Niederlage erlitt. Aber er hatte Europa auch den Code civil gebracht, die Macht der Kirche beschnitten und den europäischen Adel in Bedrängnis gebracht. Eine zwiespältige Figur, die endlich eine Neubewertung erhält und spannend erzählt wird.
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