Mehdi Belhaj Kacem: Artaud und die Theorie des Komplotts

Artaud = Mutter, Vater und ich

"Als man an mich herantrat, war ich seit zwei Jahren in einer Art neurasthenischen Prokastrination versunken", schreibt Kacem gleich zu Beginn aufmunternd in seinem Vortrag an den Leser/Zuhörer. In quasi Rimbaud’scher Manier wollte auch er mit allem, was man gemeinhin Kultur nennt, Schluss machen. Natürlich ist dies eine heillose Übertreibung und Zuspitzung, denn genauso wie Artaud oder Rimbaud ist auch für Mehdi Belhaj Kacem die Welt ohne das Wort undenkbar, unlebbar und vor allem nicht lebenswert.

Von einem, der die Wahrheit sagt

"Von uns allen hat nur Artaud nicht gelogen." (Pierre Michon) Antonin Artaud geht alle etwas an. Die ganze Welt hat sich an ihm schuldig gemacht. Denn Antonin Artaud ist mehr als nur "erlebte Geschichte" oder "autobiographische Animalität": "Ich bin Opfer eines gesellschaftlichen Verbrechens geworden, in das alle Welt mehr oder weniger einen Finger oder wenigstens eine Lidwimper miteingetaucht hat.", so Artaud selbst. In Le Havre wurde er ans Bett gefesselt, in eine Zwangsjacke gesteckt, ausgehungert und vergiftet, was ihn in seiner Verzweiflung zu den Worten veranlasste: "(...)ich habe es satt, Stoff, Stoff zu sein und unablässig vergeblich befummelt zu werden. (...) Staub. Sie wollen einen Staubmann aus mir machen". Die Irrenanstalt, der Knast, von Artaud zärtlich zonzon genannt, gab ihm das Gefühl, sich wie ein Nichtmensch, ein Freak, une bete de cirque, ein Zirkustier, ein Zirkuspferd zu sehen. Artaud ist vielleicht nicht der Erste der riesigen Familie der genialen Wahnsinnigen, wie Kacem schreibt, aber wollte man ihn in einen martyrologischen Stammbaum einordnen, säßen dort auch die anderen "Geselbstmordeten der Gesellschaft" wie Van Gogh, Baudelaire, Poe, Nerval, Nietzsche, Kierkegaard, Hölderlin, Coleridge.

Artaud = Mutter, Vater und ich

"Eine riesige Organisation liegt allem zu Grunde", schreibt Artaud, "und sie weiß es". Kann jemand, der so einen Satz schreibt, wirklich wahnsinnig sein, oder spricht daraus nicht doch Luzidität, wenn auch eine verschrobene? Die "Prosopopöie der Verderbtheit" nennt es Francis Bacon im Gegensatz zum Heroismus der Roten Garden: "Der Fall Artaud ist kompliziert. Artaud ist unfähig zu lügen. Also: unfähig zur Wahrheit." Aber da Artaud die Wahrheit ist, ist er auch ein Heroe der Postmoderne, wie Kacem nachweist. "Die Moderne muss im Zeichen des Selbstmords stehen", schreibt etwa Benjamin, "Dieser Selbstmord ist nicht Verzicht, sondern heroische Passion". Das Referenzwerk des verfemten Dichters habe keine Ahnung, woher die Referenz komme. Die Postmoderne sei aber das Gegenteil des ästhetischen oder politischen avantgardistischen Heroismus gewesen, sondern vielmehr "die Epoche der Parodie, der antiheroischen Doppelbödigkeit, des sarkastischen Mise en abyme, des generalisierten Simulakrums". Und dieser Postmoderne schleudert Artaud ins Gesicht: "Ich, Antonin Artaud, bin mein Vater, meine Mutter und ich."

Ein beflügelter, beflügelnder philosophischer Text über Artaud und die Postmoderne, die verfemten Dichter und vieles mehr. In einer schönen Ausgabe des Matthes & Seitz-Verlages.

Artaud und die Theorie des Komplotts
Artaud und die Theorie des Komplotts
75 Seiten, broschiert
EAN 978-3957575012

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