Beobachtungen einer Füchsin
Apokalypsis bedeutet eigentlich nur "Aufdeckung" - Dinge so zu offenbaren, wie sie sind, schreibt Alexandra Fuller in ihrem Vorwort "Die ungesehene Sehende, in 13 Schritten" und tatsächlich entstand die vorliegende Portraitsammlung von Annie Leibovitz am Vorabend des Endes einer Ära. Wie sie selbst im Nachwort schreibt, hoffte sie, dass am Ende der ihrem Buch den Titel gebenden Periode der Sieg Hillary Clintons stehen würde, doch stattdessen zog Donald Trump in das Weiße Haus ein. Eine neue politische Kultur macht sich seither breit, die trotz des weit verbreiteten Wohlstands, mit Neid auf Flüchtlinge oder Andersdenkende blickt. Beispielhaft wird dies in einem Portrait - das sich in vorliegender Publikation als Doppelseite abgebildet findet - ausgedrückt, das Donald Trump in seinem heißen Schlitten und Melania Trump aus einem Privatflugzeug steigend zeigt: hier wird geprotzt, nicht nur mit dem Mercedes Coupé, sondern auch mit dem nackten Bauch (Sohn Barron) Melanias, die ihn stolz von der Gangway aus dem Bauch des Flugzeuges herauskommend wie eine Trophäe präsentiert.
The crack is where the light comes in
Als Füchsin bezeichnet die englische Schriftstellerin Alexandra Fuller die seit 1967 als Fotografin arbeitende Amerikanerin Annie Leibovitz, denn sie halte sich buchstäblich im Schatten und sei eine "ungesehene Sehende", wie ein Fuchs, der sich an seine Beute heranschleiche. Eine Alchemistin des Bildes, in das sie immer sehr viel Herz lege, denn es sei dem Herzen bestimmt, gebrochen zu werden, dadurch komme viel Licht hinein, so Oscar Wilde und Leonhard Cohen in paraphrasierter Symbiose. "Ein gebrochenes Herz kann Heerscharen in sich einlassen. Ein gerochenes Herz nimmt viel an, radikal und furchterregend. Ein gerochenes Herz stellt eine Gefahr für seinen Besitzer dar.", schreibt Alexandra Fuller inspiriert weiter.
Annie Leibovitz eröffnet den Fotoreigen mit einem Bild des Schreibtischs von Virginia Wolf oder zeigt auch Georgia O’Keeffes roten Hügel von New Mexico in Großaufnahme, aber in erster Linie zeigt sie doch vor allem Portraits, wie etwa Jack Nicholson vor einem Sonnenuntergang am Mulholland Drive, ein Foto, das eine ganz besondere Alchemie ausstrahlt. Ein Familienportrait mit Harvey und Bob Weinstein und ihrer Mama Miriam von 2003 bekommt heute - im Zuge der Weinstein-Affäre - plötzlich einen ganz anderen Beigeschmack, aber Pete Seeger möchte man auf seinem Blick auf den Ozean mit seinem Banjo (darauf steht: "This machine surrounds hate and forces it to surrender") am Rücken umgehängt viel Glück bei der Erfüllung seines Mottos wünschen.
Verstreute Hoffnungen
Der Maler David Hockney wird auf einem Foto vom Rücksitz seines Autos aus bei der Arbeit fotografiert. Ohne auszusteigen malt er den Waldweg vor sich, mit Schal und Mütze gut geschützt vor etwaigen Wetterkapriolen. Miley Cyrus wird verschreckt von einem Leintuch bedeckt in Calbasas porträtiert und ein Foto von Jon Stewart, dem Nachrichtensprecher, zeigt, wie es wirklich unter seinem Schreibtisch während der Ansage zugeht: er hat nur Unterhosen an, ein Schimpanse souffliert und Assistenten schreiben ihm die Meldungen, dazu ein Haufen Müll. Weniger humorvoll ist das Portrait von Sting, das ihn an der Atlantikküste von New York 2014 mit einem wallenden Mantel zeigt und ihn zu einem Napoleon des Windes macht, der das Weltmeer überschreiten möchte. Barack Obama wird im Gespräch mit Doris Kearns Goodwin im Weißen Haus porträtiert, das im Hintergrund auch ein Bild George Washingtons zeigt, der darauf ebenfalls seine rechte Hand auf sein Kinn stützt.
Annie Leibovitz bezeichnet sich in ihrem Nachwort zu vorliegendem Prachtband des Schirmer/Mosel-Verlages als "keine gute Regisseurin", sie verlasse sich immer darauf, dass ihre Modelle etwas zu dem Bild beitragen, das sie schieße. Ebenso wichtig sei aber der Ort, wo das Setting stattfinde, denn sie sei keine Studiofotografin, sondern das Gegenteil: "Die Örtlichkeit ist ein integraler Bestandteil eines Bildes, nicht nur Hintergrund oder Dekoration. Die Geschichte eines Ortes, seine Geräusche und Gerüche beeinflussen ein Bild so sehr, wie es eine Studioaufnahme niemals wiedergeben kann." Das vorliegende Buch ist aber auch bezüglich ihrer Fotografie als neue Ära zu bezeichnen, denn 2006 begann die Künstlerin mit Digitalkameras zu arbeiten. Im Anhang befindet sich auch ein alphabetisches Register zu den porträtierten Celebrities, deren Anmerkungen Annie Leibovitz persönlich verfasst hat.

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