Facettenreiches Kulturland
Andalusien! Glühende Hitze, Flamenco, maurisches Erbe - einige der Assoziationen, die sofort bei diesem Namen geweckt werden. Andalusien steht aber auch für einen Wandel von einem der ehemalig ärmsten Agrargebiete Europas zu einer qualitativ hochwertigen Tourismusregion mit all seinen daraus resultierenden Vor- wie Nachteilen. Neben den reizvollen Küsten an Atlantik und Mittelmeer bietet Andalusien auch ein attraktives Hinterland mit Berglandschaften, Sümpfen und Korkeichenwäldern. Andalusien bietet einen Gegensatz von ruraler Abgeschiedenheit, etwa in der Sierra de Jaén und modernem Großstadtleben wie in Sevilla. Andalusien beherbergt sowohl die jüngsten Gemeinden Europas als auch die älteste westeuropäische Zivilisation mit der über 3000 Jahre alten Stadt Cádiz.
Diese autonome Provinz Andalusien, mit einer Fläche von 87.260 Quadratkilometern größer als Österreich, ist also ein facettenreiches Kulturland, welches sich beschreibenden Worten mehr und mehr entrückt, je weiter sich der Reisende in das Land begibt. Wenn man dieses Land, welches seinen Namen von den Vandalen bekam, die sich hier und im Norden des heutigen Marokkos während der Völkerwanderung niederließen und ihr Königreich gründeten, überhaupt in einem Satz charakterisieren möchte, dann vielleicht so: Andalusien - Land der Gegensätze!
Nacheinander von Ost nach West beschreibt Schröder die sieben Provinzen Andalusiens. Er beginnt mit einer allgemeinen Einführung zum Reiseland. Es wird in anspruchsvoller, jedoch nicht abgehobener Sprache auf Geographie, Geschichte, Gebräuche und Gesellschaft des Landes eingegangen. Zu jeder beschriebenen Provinz und Stadt erhält der Leser ein detailliertes Kartenwerk und illustrierende Fotografien. Ein ganzes Kapitel widmet der Autor reisepraktischen Tipps wie Anfahrtsbeschreibungen per Auto, Flug und Zug, Preisen, Adressen für Hotel, Gastronomie und Tourismus-Service, ärztlicher Versorgung, Wandertipps, Öffnungszeiten von Museen und vieles mehr. Abgeschlossen wird das Buch mit einem kleinen Sprachführer und einem genauen Register.
Antike, Mittelalter, Neuzeit
Einen besonderen Focus richtet Thomas Schröder auf die bewegte Geschichte und die daraus resultierende vielfältige Kunstgeschichte des Landes: Er beschreibt einen weiten Bogen von der ersten menschlichen Besiedlung in der Jungsteinzeit hin zu den Phöniziern, die das Gebiet beiderseits der Straße von Gibraltar zunächst als Flottenstützpunkt nutzten und schließlich als Handelszentrum ausbauten. Es folgten Griechen, Karthager und natürlich die Römer, welche im 2. Punischen Krieg 218-201 v. Chr. auf der iberischen Halbinsel gegen die Karthager kämpften und ihnen erfolgreich die Hispania Ulterior genannte Provinz entrissen. Betis war der Name des seit der maurischen Ära Guadalquivir getauften Flusses, welcher Córdoba und Sevilla durchströmt und zwischen Huelva und Cádiz in den Atlantik mündet. Noch heute benennen sich zahlreiche andalusische Fußballclubs nach dem römischen Namen, der bekannteste und erfolgreichste: Real FC Betis Sevilla.
Der Beginn der germanischen Völkerwanderung beschleunigte den Zerfall des Römischen Imperiums, vor allem in seiner Westhälfte: Westgoten und besonders Vandalen ließen sich in der ehemaligen römischen Provinz nieder und gründeten sowohl im Norden Afrikas als auch im Süden Spaniens die ersten christlichen Königreiche. Nicht nur Andalusien, auch der Norden des heutigen Marokkos, genannt Al-Andalus, erhielt seither den Namen des Stammes der Vandalen. Einen besonderen Wert legt Schröder auf das arabische Erbe Andalusiens und hält einen chronologische Abriss von der fast 800 Jahre währenden Eroberung, Besiedlung und Kultivierung der iberischen Halbinsel durch die arabischen Herrscher und ihrer berberischen Söldnertruppen, die auch Mauren oder Moros genannt wurden und bis heute so von den Andalusiern genannt werden.
Weiter führt uns Schröder in die Ära der Reconquista, die Wiedereroberung Spaniens durch die Christen, die folgende, wenig ruhmreiche Inquisition und Vertreibung der Araber und Juden aus Andalusien und schließlich in das Zeitalter der Entdeckung und Kolonisierung Amerikas, was zu einem rasanten Aufstieg der Provinz Andalusiens, besonders der Hafenstädte Huelva, Cádiz und Sevilla führte. Nach dem Siglo de Oro, dem goldenen Zeitalter - mit einer Entwicklung andalusischer Literatur, Architektur und Kunst - bedeutete der Verlust der letzten spanischen Kolonien im Krieg mit den USA 1898 den endgültigen Niedergang Spaniens und vor allem Andalusiens in die politische Bedeutungslosigkeit und den wirtschaftlichen Ruin. Besonders der Verlust von Kuba und Puerto Rico mit dem wichtigen Zuckerrohr, Rum und Tabakhandel wirkte sich für die Hafenstädte Cádiz und Huelva bis in die heutige (!) Zeit schwerwiegend aus.
Gesellschaft und Gebräuche
Es ist Thomas Schröder hoch anzurechnen, dass er sich die Mühe einer intensiven Geschichtsschilderung und Landeskunde in seinem Reiseführer gewidmet hat: So werden dem interessierten Reisenden die größtenteils historisch bedingten Sorgen, Probleme und Konflikte der heute lebenden andalusischen Bevölkerung skizziert. Vielleicht hilft dies, ein besseres Verständnis für den manchmal sehr gegensätzlich wirkenden andalusischen Charakters zu entwickeln, der Außenstehenden einerseits sehr freundlich, lebenslustig und herzlich aber auch trotzig, verschlossen und kaltschnäuzig begegnen kann. Das Land, welches nie eine humanistische Aufklärung und eine Bodenreform erfuhr, steht bis heute in einer Spannung aus Stolz und Tradition einerseits und Misstrauen und Komplexen andererseits.
Schröder geht auf diese Widersprüche ein, er beschreibt die Konfrontation von klassischen Werten, alten Traditionen und Familienehre mit der wirtschaftlichen Entwicklung, den durch Touristen importierten Werten und Moden und der politischen Neuorientierung Spaniens innerhalb der EU. Diese Konfrontation generiert Konflikte wie den einsetzenden Zerfall von Familien, Landflucht, Schaffung von neuem Reichtum und neuer Armut, Spekulation und Nationalismus. Gleichzeitig entstehen aber auch wirtschaftlicher Aufschwung, eine Liberalisierung der Gesellschaft, ein modernes Dienstleistungsklima: Andalusien ist wie viele Regionen in Europa ein Land im Wandel. Schröder hilft mit seinen gut recherchierten Beiträgen, dem Reisenden einen kontrastierenden Blick für das Land zu entwickeln.
Urlaubsrelevante Aspekte
Hat der Leser die historischen, kulturellen, geographischen und soziologischen Informationen angenommen, darf er sich über eine wohl geordnete, klassische Funktion eines Reiseführers freuen: Nach den sieben Regionen Andalusiens (Jaén, Almería, Granada, Córdoba, Málaga, Sevilla, Huelva, Cádiz) gegliedert, weist Thomas Schröder auf die Klimabedingungen und Landesnatur der Provinzen hin, gibt Tipps für die beste Reisezeit und die Reiserouten, listet Adressen und Öffnungszeiten auf, weist auf regionale Besonderheiten hin. Er hebt besondere Sehenswürdigkeiten wie die Alhambra in Granada, den Naturpark von Donana oder Ausgrabungsstätten in Cádiz hervor. Ein appetitanregender Gastronomieführer, ein Museumsratgeber und Shopping-Tipps zu jeder besprochenen Stadt runden das Bild eines gut gefüllten Reiseführers ab.
Eine große Leistung vollbringt Schröder, indem er Andalusien auch für Alpintouristen öffnet und als El Dorado für Bergwanderer, Skifahrer, Segelflieger etc. beschreibt. Denn oft wird vergessen: 90 Prozent der Oberfläche Andalusiens ist gebirgig und bietet mit Sierra Morena und Sierra Nevada eine hochalpine Landschaft in der Höhe von über 3000 Metern. Von den Bergen zur See: Natürlich hat der Autor ein großes Herz für sonnenhungrige und wasserdürstende Urlauber und hat fernab des Massentourismus viele kleine Buchten und Naturstrände an den Küsten der beiden großen Meere entdeckt. Wer kühleres Wasser nicht scheut, passionierter Surfer ist und etwas mobil bleibt, wird neben den Hot Spots der Costa del Sol an der Mittelmeerküste vor allem an der Atlantikküste, der Costa de la Luz, dank Schröder noch einige traumhafte Naturstrände erleben. Von der See zur Steppe: Wer wirklich einmal völlig abschalten will, wird sicherlich bei Schröders Beschreibung der Provinz Almería und ihrer Wüstenlandschaft wertvolle Tipps finden. Gerade die Beschreibung dieser menschenleeren, von rotem Sand und Kakteen geprägten Provinz (übrigens die größte Obstanbauregion Spaniens) wird in vielen Reiseführern ungerechterweise ignoriert, auch hier hat Schröder die Nase vorn.
Fazit
Land im Wandel, Land der Traditionen. Berge und Küste. Wüsten und Wälder. Großstadt und Hinterland. Thomas Schröder beschreibt in seinem Buch, dass Andalusien in jeder Hinsicht vor allem eines ist: Ein Land der Gegensätze. Angelehnt an dieses Leitmotiv bespricht das Buch sämtliche Provinzen, sämtliche klassischen Reiseroute, macht neugierig und verbreitet die Lust auf mehr. Dennoch will ich an dieser Stelle zwei Wermutstropfen nicht verschweigen: Das Druckniveau der Schwarzweiß Fotos lässt zu wünschen übrig, was um so mehr auffällt, als dass die Farbfotos eine insgesamt gute Qualität aufweisen. Weiterhin sind die Restaurant-Tipps, die Shopping-Tipps und vor allem die Nightlife-Tipps gerade in den großen Städten mitunter etwas dürftig ausgefallen, was besonders ein junges Lesepublikum geschätzt hätte. Dieser Aspekt fällt auch deshalb auf, weil andere Kapitel des Buches sauber recherchiert und dokumentiert sind. Insgesamt ist 'Andalusien' ein wirklich gut geschriebenes und spannendes Buch, was die Reisenden trotz des hohen Seitenumfangs gerne in ihr Gepäck legen werden.
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