Der Faschismus und seine Anziehungskraft
Die Zahl der Untersuchungen zum Phänomen des Faschismus ist auch für den Experten nicht mehr überschaubar. Allein mit den Studien zum deutschen und italienischen Faschismus ließen sich ganze Bibliotheken füllen. Wer also im Jahre 2006 (englisches Original ist bereits 2004 erschienen) ein weiteres Werk zum Faschismus vorlegt, muss dafür gute Gründe haben. Robert O. Paxton, Emeritus der renommierten Columbia Universität, ist nicht eben bescheiden, will er doch den gordischen Knoten lösen: Warum konnte der Faschismus im Europa der Zwischenkriegszeit eine solche Massenanziehungskraft entwickeln und sich im Falle Deutschlands zum Terrorsystem par excellance mutieren? Vor ihm haben das schon Ernst Nolte ("Der Faschismus in seiner Epoche") und Stanley Payne ("Geschichte des Faschismus") versucht.
In den ersten fünf Kapiteln werden die jeweiligen Aktionsphasen der verschiedenen Faschismen beleuchtet. Neben den Anfängen wird vor allem die Einbindung in die politischen Systeme eingehend dargelegt. Im vierten Kapitel trennt sich allmählich die Spreu vom Weizen: Während in einigen Ländern faschistische Bewegungen nur "im Schlepptau siegreicher Heere" an die Macht gelangten, besaßen Italien und Deutschland die wohl stärksten und durchsetzungsfähigsten Führer. An dieser Stelle lässt Paxton eine multiperspektivische Analyse vermissen: Es war schließlich nicht die Stärke der Faschisten, sondern die Schwächen der Demokratie bzw. alten Eliten, die den Faschismus ungehindert an die Schalthebel der Macht gelangen ließen. Das fünfte Kapitel behandelt den Holocaust, der nur in Deutschland stattfand und somit keine allgemeine Erscheinung des Faschismus darstellt.
Robert Paxton zeigt eine Wegstrecke auf, die mit vielen verschiedenen Faschismen und Bewegungen beginnt und auf der nur der Nationalsozialismus übrig bleibt. Inwieweit dieser noch als Faschismus bezeichnet werden kann, also ein genereller Faschismusbegriff brauchbar ist, wird von Paxton nur unzureichend beantwortet. Seine Definition von Faschismus wird auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert und ist bereits mehrfach in der Forschung geäußert worden, bietet also nichts Neues: Die Aussage, dass die faschistischen Parteien "Ziele der inneren Säuberung und äußeren Expansion" verfolgten, deutet auf eine nicht eben tiefgehende Analyse hin. Paxtons Annahme, dass der Faschismus heute noch möglich ist und sich in so manchen Ländern finden lässt, ist ebenso wenig neu.
Kritisch zu sehen ist auch Paxtons Einschätzung der italienischen Diktatur. Gerade aufgrund neuester Forschungen (u.a. Hans Woller) zum Antisemitismus in Italien ist es geradezu grotesk von einem Abrutschen des Mussolini-Regimes in einen konservativen Autoritarismus zu reden. Gerade in den Kolonien sollte sich die volle Schlagkraft des Faschismus zeigen. Das Gewaltpotential in Italien ist höher als von Paxton eingeschätzt. Man kann ihm hier Unkenntnis der neuesten Forschungen unterstellen.
Robert Paxton hat eine gut lesbare Studie zum Faschismus vorgelegt. Anders als vom Verlag angekündigt und von Ian Kershaw bereits geäußert bietet sie allerdings nichts Neues. Zudem tun sich, wie oben gezeigt, einige Schwächen auf. Wer einen schnellen und einigermaßen zuverlässigen Überblick sucht, der kann zu Paxtons Werk greifen. An den Untersuchungen von Wippermann, Payne oder Nolte kommt man hingegen weiterhin nicht vorbei.
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