Pierre Claverie: An der Nahtstelle zweier Welten

Brückenbauer

Die Sehnsucht nach Dialog und die Hoffnung auf Verständigung verbindet Menschen, ob gläubig, religiös musikalisch, suchend oder agnostisch orientiert. Im Frieden miteinander zu leben ist ein hohes Gut. Kalte Verständnislosigkeit und vorurteilsvolle Feindseligkeit bestehen in vielen Schattierungen, zwischen Menschen, Kulturen und Religionen. Pierre Claverie, der am 8. Mai 1938 in Algerien geboren und dort am 1. August 1996 zusammen mit seinem muslimischen Weggefährten und Freund Mohamed Bouchiki ermordet wurde, gehörte dem Dominikanerorden an. Der Weg seines Lebens ist gezeichnet von der aufrichtigen Suche und dem Bewusstsein, dass Christen und Muslime – einander in Sympathie verbunden – zu Gast und auf Zeit zu Hause sein dürfen auf dieser Welt und auch in demselben Land. Claverie legt Gedanken über Möglichkeiten des Dialogs vor, illusionslos und unsentimental, ohne jede Belehrungs- oder gar Bekehrungsabsicht, aber von der realistischen Hoffnung, am Brückenbau zwischen religiösen Menschen mitzuarbeiten, bewegt, beflügelt und erfüllt. 

Pierre Claverie, einer Familie entstammend, die seit Generationen in Algerien lebte, sagte, er sei in einer "kolonialen Blase" aufgewachsen. Viele Franzosen konnten weder Arabisch verstehen, noch begegneten sie Muslimen in ihrem Alltag. Claverie suchte, so schreibt der Jesuit Felix Körner in der konzisen Einführung, als Dominikaner eine "Lebens- und Denkform, die nicht selbstgenügsam urteilt, die vielmehr gesellschaftspolitisch weiterführt und die im Leben und Sterben trägt". So wenig wie Christen oder auch Katholiken eine monolithische Formation bilden, so verhält es sich auch mit den Muslimen. Der Islam zeigt ein facettenreiches, vielschichtiges Bild. In Algerien begegnen Dominikaner Angehörigen von "Bruderschaften", die "tatsächlich Brüderlichkeit" leben, "auch mit den Christen". Claverie widmet sich mystischen Lehren in den abrahamitischen Religionen und zeigt sich von innen her aufgeschlossen für die geistlichen wie dialogorientierten Impulse des II. Vatikanischen Konzils. Er sucht das Gespräch mit Muslimen, den Austausch im Alltag, die Gemeinschaft vor Ort, die möglich ist, und die brüderliche, geschwisterliche Verständigung. Das bedeutet für ihn auch den Verzicht auf den Gestus der Rechthaberei und des Triumphalismus. Claverie sucht und findet Freundschaften. Den "Machtmissbrauch" in den Religionen kritisiert der Dominikaner, ebenso die Instrumentalisierung Gottes für Gewalt. Das "grelle Licht der Wirklichkeit" entlarve die "Lüge oder Unstimmigkeit der religiösen Rede". Hellsichtig spricht er über menschliche Schwächen, die zutage treten, wenn Einzelne anderen Menschen mit Wut und vielen Formen des Empörungsrausches entgegentreten: "Ich kenne viele Menschen, die sich über unzulässige Verhaltensweisen anderer entrüsten und – mit dem allerbesten Gewissen der Welt – von tiefster Verachtung geprägt sind denjenigen gegenüber, die ihn nicht gleichen, in Algerien und anderswo." Diese "Gereiztheit" beobachten wir heute vielleicht auch in unserer Nähe, möglicherweise sogar bei uns selbst. Claverie wirbt für eine Analyse kultureller Prägungen, beschreibt die Angst vor Fremden und sagt: "Wenn wir einer Person begegnen, begegnen wir zuerst einem anderen kulturellen Universum." Viele Menschen wüchsen überall in einer "Blase" auf und lebten auch in "Blasen", die sie mit der Wirklichkeit identifizieren. Die Begegnungen mit anderen fänden oft auf dem Weg der "Vorurteile" statt, ja "kategorische Urteile" versperren die Sicht auf den Nächsten – oft wechselseitig. Wichtig sei, sich für "Annäherung und Begegnung" zu entscheiden, doch frei von jeder Naivität. Ein "wahres und anspruchsvolles Kennenlernen" sei schwierig, aber möglich: "Unser Glaube lädt uns dazu ein, wenn er uns lehrt, in den anderen die Reichtümer zu entdecken, mit denen der Schöpfer sie ausgestattet hat: unendlich vielfältige kulturelle und spirituelle Reichtümer. Jedes Volk, jede Kultur, jede Religion birgt einen Teil des Geheimnisses des Lebens, des göttlichen Geheimnisses, das niemand ausschöpft." 

Die christliche Präsenz in Algerien versteht der Dominikaner als eine "Berufung zur guten Nachbarschaft". Er spricht zudem von Berührungspunkten zwischen den Religionen: "Dienen heißt, die Liebe Gottes und sein Reich in Taten der Liebe mitzuteilen. In diesem Dienst an den Menschen können die entscheidenden Begegnungen zwischen Christen und Muslimen stattfinden." Dazu sei es auch nötig, die Unterschiede gegenseitig zu kennen und zu achten. Nur so könnten sich "freundschaftliche Beziehungen" entwickeln: "Freundschaft ist ein Geschenk oder sie ist keine Freundschaft." Die Religion erscheine historisch oft wie eine "ideologische Vorratskammer". Es sei wichtig, sich vor "Verallgemeinerungen", vor "politischer Propaganda" und auch vor "religiöser Apologetik" zu hüten und zu wissen: "Nicht alles, was anders ist als wir, ist eine Bedrohung." Christen und Muslime können "den anderen entdecken", vielleicht "im Dämmerlicht einer beschränkten, aber endlich wahren Sicht". Claverie schreibt: "Wir können uns nicht weigern – ohne unseren Glauben und unsere Identität zu verraten –, den anderen die Hand zu reichen, wer immer sie auch sind, um sie besser zu verstehen, ihn besser zu lieben, sie besser zu lieben." Was für die eine Leserin und den anderen Leser vielleicht idealistisch klingt, erscheint doch, näher besehen und am eigenen Alltag möglicherweise geprüft, als ein positiver Impuls für die Schönheit der Begegnung, für den Ausbruch aus festgefügten Meinungen und den leisen Aufbruch in eine neue Gemeinschaft der Freundschaft untereinander. Für den interreligiösen Austausch rät Pierre Claverie insbesondere Christen sowie Muslimen, die "Dämonen der Polemik" im Gespräch zu vertreiben. Er zitiert dazu die Sure 29 des Koran: "Diskutiere mit den Menschen des Buches nur auf die höflichste Weise." 

Voraussetzung des Dialogs sei die "Achtung vor dem anderen in seinem Gewissen und in seiner Freiheit". Der Dominikaner ruft die Texte des II. Vatikanischen Konzils in Erinnerung und schlussfolgert: "Nicht nur, dass ich zugebe, der andere sei anders, ein Subjekt in seiner Verschiedenheit und frei in seinem Gewissen, sondern ich nehme an, dass er einen Teil der Wahrheit besitzen kann, der mir fehlt und ohne den meine eigene Wahrheitssuche nicht vollständig abgeschlossen werden kann. Ich brauche ihn, da er mir in meiner Erkenntnis fehlt. Der andere kann mir somit etwas Notwendiges geben." Zugleich betont Claverie die Unterschiede zwischen Koran und Bibel. Diese dürften auch nicht verschwiegen werden, etwa hinsichtlich des Verständnisses von der Allmacht Gottes und der Rolle der Propheten: "Die Wahrheit ist für eine Begegnung unerlässlich, doch, ich wiederhole, sie kann nur in einem Klima des Vertrauens und der Achtung voreinander geäußert werden." Der Dominikaner wünscht sich Wege aus der Selbstverschließung der Gläubigen und wirbt für die "Kindschaft" der Gottesbeziehung: "Am Ende werden wir – wie die Muslime – dem Geheimnis des einen Gottes, der uns nicht gehört, gegenüberstehen. Mit Jesus sind wir aber eingeladen, einzutreten in das Geheimnis seiner Liebe, die unser Leben verwandeln kann." Der Versuchung, "andere zu beherrschen" – und dies "im Namen der Wahrheit" –, müssten alle widerstehen, Christen und Muslime. Hinzugefügt sei: Das gilt, scheint mir, in gleicher Weise auch für Säkulare, Andersgläubige, Agnostiker und Atheisten. 

Pierre Claverie war zeitlebens – auf unverwechselbare, beeindruckende Weise – ein Brückenbauer. Dieses kostbare und wertvolle Buch bereichert alle Leserinnen und Leser und sei zur Lektüre und Betrachtung empfohlen. Der eine oder die andere wird vielleicht selbst davon inspiriert werden, Brücken des Dialogs und der Verständigung in seinem Alltag behutsam, sensibel und sorgfältig zu bauen – zu den Mitmenschen in unserer Nähe, ob gläubig oder nicht.

An der Nahtstelle zweier Welten
An der Nahtstelle zweier Welten
Muslime und Christen im Dialog
180 Seiten, broschiert
EAN 978-3894114534

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