Der Primat der Rüstung: Wie das NS-Regime die Alten vernachlässigte
Was bedeutet es, während der Zeit des Nationalsozialismus zur älteren Generation zu gehören? In ihrer Marburger Dissertation lotet Lil Christine Schlegel-Voß den Raum aus, in dem sich die Rentnerinnen und Rentner bewegten. Nach der Einleitung, in der die Autorin das Wesen der "nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie" definiert, widmet sie sich in fünf weiteren Kapiteln den verschiedenen Alterssicherungstypen.
Ausgehend vom nationalsozialistischen Postulat, dass die Altersversorgung großzügig ausgebaut werden sollte, legt Schlegel-Voß den Hauptschwerpunkt auf die strukturellen Veränderungen innerhalb der Alterssicherung. Wo gab es Neuerungen gegenüber den Plänen der Präsidialregierungen der Weimarer Republik? Inwieweit war die NS-Sozialpolitik progressiv? Wie entwickelte sich die materielle Versorgung der älteren Generation? All das sind Leitfragen, die sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel ziehen. Lil-Christine Schlegel-Voß kann klarstellen, dass in der Rentenpolitik das "NS-Regime bis Kriegsbeginn kaum eigene Initiativen" entwickelte, sondern die "Sparpolitik der Weimarer Präsidialkabinette" fortführte (S. 277). Auch als sich in Deutschland ab 1934/35 die wirtschaftliche Lage verbesserte, partizipierten nicht die Versicherten an den erzielten Überschüssen. Angestrebte Leistungsverbesserungen wurden vom Finanzministerium verworfen, da alle Energien und fiskalischen Kräfte für die Rüstung mobilisiert werden mussten. Der Primat der Rüstungspolitik schlug auch in diesem Bereich voll durch. Bis zum Kriegsbeginn 1939 gab es keine Rentensteigerungen. "Die Renten stagnierten auf dem niedrigen Krisenniveau" (S. 277). Aufgrund steigender Lebenshaltungskosten verschlechterte sich die relative Einkommensposition der Rentenempfänger.
Mit der Einführung der Handwerkerversicherung 1938 sollte diese Politik nur scheinbar unterbrochen werden. Um sich die Loyalität der Bevölkerung zu sichern, waren sozialpolitische Erfolge unabdingbar. Nicht zuletzt weil die NSDAP vor der Machtübernahme 1933 mit dem Versprechen der materiellen Verbesserung der Arbeiterschaft offensiv Wahlkampf betrieben hatte. Dies stand mit dem Inkrafttreten der Handwerksversicherung allerdings nicht im Vordergrund: Zuallererst sollte es die Handwerksversicherung dem Staat ermöglichen - hervorgerufen durch die langen Wartezeiten - Geld abzuschöpfen, um die Aufrüstung zu finanzieren. Ein ähnliches System gab es beim sog. VW-Sparen: Es wurden zukünftige materielle Verbesserungen versprochen, die allerdings nie realisiert wurden. Jahrelang sparten Arbeiter auf ihren eigenen PKW, um danach leer auszugehen. In der Zwischenzeit hatte sich der Staat geräuschlos am Volksvermögen bedient. So geschehen auch bei der Handwerksversicherung.
Im Kapitel über die sozialpolitischen Vorstellungen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) wird deutlich, wie das NS-Regime die Ausbeutung der Arbeiterschaft vorantrieb. Indem die Versorgungsansprüche von den tatsächlichen Versicherungsbeiträgen abgekoppelt und "mit einer nur vage definierten Arbeitspflicht" verknüpft wurden, sollte die "Ausplünderung der Arbeitskraft optimiert und politisches und soziales Wohlverhalten erzwungen werden." (S. 278). Das Versorgungswerk war Teil einer Sozialstrategie, die die Arbeiter langfristig an das Regime binden sollte, indem ihnen für die Opfer und Entbehrungen zahlreiche Belohnungen versprochen wurden. Aufgrund finanzieller Engpässe und andersartiger Prioritäten mit zunehmender Kriegsdauer war es allerdings mehr als fraglich, ob die Vorstellungen des Versorgungswerks der DAF jemals hätten verwirklicht werden können.
Im Vergleich zur Weimarer Republik nahm die betriebliche Alterssicherung erheblich an Bedeutung zu. Da die Leistungen der öffentlichen Rentenversicherung spürbar sanken, sollte die betriebliche Sicherung als weitere Säule etabliert werden. Diese Rechnung ging allerdings nicht auf: Nur in den kapitalintensiven Großindustrien sowie im Bank- und Versicherungsgewerbe wurden üppige Zuwendungen erreicht. Bei der großen Masse der Betriebe hingegen konnten die Arbeiter nur geringe Beträge erwarten. "Einen allgemeinen Ausgleich für die Defizite der staatlichen Rentenpolitik vermochte die betrieblich Altersvorsorge daher nicht zu leisten." (S. 279).
In einem sehr kurzen Kapitel geht Schlegel-Voß auf die Situation in den Alters- und Pflegeheimen in der NS-Zeit ein. Die Zustände waren mitunter unmenschlich. Pflegebedürftige Rentner waren sich selbst überlassen oder wurden mangelhaft versorgt bzw. oftmals misshandelt. Viele Bewohner solcher Heime gerieten in den Sog der Euthanasie-Aktionen und wurden nicht selten als "unnütze Esser" bzw. Ballast empfunden, den es abzuschütteln galt.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass sich die Einkommenssituation der älteren Generation entgegen der Propaganda im Vergleich zur Weimarer Republik stark verschlechterte. Die materielle Besserstellung der Rentnerinnen und Rentner gehörte nicht zu den Prioritäten des NS-Regimes. Der Primat der Rüstungspolitik galt nach wie vor. Der Sparkurs der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher wurde auch in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs fortgesetzt. Durch die gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten hatten viele ältere Menschen weniger als vorher. Erst mit der Neuordnung nach 1945 sollte sich das ändern.
Lil-Christine Schlegel-Voß hat eine sehr straffe und gut lesbare Analyse der Lebenslage der älteren Generation im Nationalsozialismus vorgelegt, die sich vornehmlich auf gedruckte Quellen und Literatur stützt. Einige wenige Quellen aus dem Bundesarchiv ergänzten die Materialgrundlage. Der Autorin kommt der große Verdienst zu, sich mit allen Teilaspekten der Alterssicherung auseinandergesetzt und diese zu einem Gesamtbild zusammengesetzt zu haben.
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