Ahmadou Kourouma: Allah muss nicht gerecht sein

Afrika: Ein Kontinent auf der Suche nach sich selbst…

Ahmadou Kourouma ist zweifelsohne eine der bedeutendsten und kraftvollsten literarischen Stimmen Schwarzafrikas. Mit seinem vor Fabulierfreude strotzenden und zumeist zwischen ethnologischhistorischem Dokument und politischem Pamphlet oszillierenden Werk hat er gerade seiner europäischen Leserschaft die frankophone Literatur Afrikas und somit auch den afrikanischen Kontinent ein gutes Stück näher gebracht. Doch wenngleich er stets darum bemüht ist, unser Bewusstsein für Kultur und Geschichte seiner westafrikanischen Heimat zu schärfen, geht es ihm in afrozentrischer Perspektive vor allem um die Frage nach der aktiven Gestaltung einer "nachhaltigen afrikanischen Zukunft". Immer zeigt er sich dabei als einer der großen Beschwörer - und dies gelingt ihm ohne zu verklären - des traditionellen, von mythischen und prälogischen Denk- und Verhaltensweisen geprägten Afrikas. Der Spagat aber, den er von seinen Figuren wie von seinen (afrikanischen) Lesern fordert, ist der Spagat zwischen Tradition und Moderne: Sie sollen sich ihrem problematischen kolonialen Erbe stellen und den gesellschaftlichen Veränderungen entsprechend nach außen hin öffnen, ohne dabei das Bewusstsein für die eigenen Wurzeln zu verlieren bzw. ohne diese zu leugnen.

In all seinen Büchern war diese kritische Auseinandersetzung mit der Identitätsproblematik des entkolonialisierten, oft sich selbst überlassenen Afrikas mit der spürbaren Hoffnung auf eine bessere und selbstbestimmte Zukunft des Kontinents verbunden. In "Allah muss nicht gerecht sein", seinem letzten und mit dem "Prix Renaudot" sowie dem "Prix Goncourt des Lycéens" ausgezeichneten Roman, geht er jedoch einen Schritt weiter: Die politischen bzw. gesellschaftlichen Entwicklungen in vielen Teilen seines Kontinents scheinen ihn eingeholt bzw. überholt zu haben…

Erzählt wird die Geschichte des ivorischen Jungen Birahima. Im Alter von 12 Jahren verliert er seine Mutter und die Verwandtschaft beschließt, ihn in die Obhut seiner Tante nach Liberia zu schicken. Begleitet von Yacouba, einem ihm zum Schutz an die Seite gestellten Fetischpriester, macht er sich auf den Weg. Doch bevor die beiden überhaupt die Grenze erreichen, findet ihre eigentliche Reise ein abruptes Ende: Sie werden von Rebellen überfallen und entführt - von einer Sekunde auf die andere befinden sich die beiden inmitten der Wirren brutalster Bürger- und Bandekriege, Birahima wird zum Kindersoldaten zwangsrekrutiert und bis zum Ende des Romans hat keiner von beiden - ebensowenig wie all die anderen verschleppten, verkauften und getöteten Kinder, deren schicksalhaften Weg sie kreuzen - auch nur die geringste Ahnung von dem, was warum mit Ihnen geschieht. Elfenbeinküste, Liberia, Sierra Leone - es beginnt eine dreijährige an Grausamkeit kaum zu überbietende Odyssee durch das im totalen Chaos der Stammeskriege versunkene westliche Afrika. Für Birahima ist fortan nichts mehr, wie es vorher einmal war, und der Kampf um das eigene Überleben kostet seinen Preis - einen Preis, der mit Begriffen wie der zunehmenden Verrohung und seelischen Verstümmelung des Kindersoldaten Birahima nur unzureichend beschrieben ist… Es folgt eine an Tempo und Ereignishaftigkeit kaum zu überbietende Wanderung quer durch die verschiedensten Kriegsschauplätze der Region. Dem Leser eröffnet sich eine von Gewalt, Irrsinn und Sinnlosigkeit geprägte, nahezu unvorstellbare Wirklichkeit, deren erschreckend grausamer Eindruck sich durch Kouroumas "Erzählen im Zeitraffer" noch verstärkt, so dass man sie fast - und sei es nur, um kurzzeitige Erleichterung angesichts des Erzählten zu finden - für eine poetische Verkürzung, für eine unwirkliche Übertreibung halten möchte. Doch leider ist es damit nicht getan: Wie nicht zuletzt die Tag für Tag aus Ruanda, Sudan & Co uns ereilenden Nachrichten zeigen, verwischt an genau dieser Stelle die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit…

Fast ist man geneigt Birahima, den kindlichen Protagonisten des Romans, als eine moderne afrikanische Adaption des Pikaro zu lesen, jenes gerissen-schlauen und oftmals am Rande der Legalität und jenseits moralischer Konventionen sich bewegenden (Über-)Lebenskünstlers, der seiner sozialen Benachteiligung und den widrigen Lebensumständen mit oft bewundernswerter Ausdauer und Hartnäckigkeit zu trotzen weiß. Gleichsam diesem Typus gerät Birahima unverschuldet in sein Unheil und zwingen ihn die äußeren Umstände bzw. eine destruktive Lebenswelt zu seinen eigenen Vergehen und Grausamkeiten. Und doch ist er - sollte sich diese im Hinblick auf das Sujet der Erzählung nicht uninteressante These aufrecht halten lassen - ein Pikaro unter anderen, unter negativen Vorzeichen: Angesichts des - im Vergleich zu seinen seit dem spanischen Barock in allen großen Nationalliteraturen beheimateten und insbesondere in Zeiten sozialer Krisen und moralischer Dekadenz beliebten "literarischen Vorfahren" - deutlich zunehmenden Grades an existentieller Bedrohung kann das gattungstypische Schema in Form eines für den Protagonisten (relativ) glücklicherfolgreichen Endes im Grunde a priori nicht erreicht werden. Folgerichtig wählt Kourouma die Form einer "erzählerischen Schleife", die Birahima den piakresken Erfolg über die Gesellschaft verwehrt (wobei man natürlich diskutieren könnte, ob das bloße Überleben in dieser Gesellschaft nicht schon als der größte aller möglichen Erfolge zu sehen ist) und die Hoffnungslosigkeit seines Daseins umso deutlicher zu Tage treten lässt.

Die große Kunst Kouramas besteht darin, dass er trotz des Stoffes und des zum Stilmittel erhobenen "Realismus der Darstellung" (unweigerlich lässt einen das Nebeneinander von Realismus und märchenhaftem Erzählen afrikanischer Lebenswirklichkeit an den "Realismo mágico" bzw. an die "Boomliteratur" Lateinamerikas denken) dem Leser ein über weite Strecken regelrecht joviales Werk von hoher Unterhaltsamkeit präsentiert. Verantwortlich dafür ist vor allem der Kunstgriff der permanent zwischen Naivität und Ironie bzw. Sarkasmus schwankenden Erzählhaltung seines nicht nur mit seinem Schicksal, sondern gleichzeitig mit den Tücken der französischen Hochsprache kämpfenden Protagonisten. So macht Kourouma die eigentlich unzumutbar-schwere Kost letztlich doch leicht verdaulich…

Und ganz wie nebenbei liefert uns der Aufklärer Kourouma durch Handlung und Rede seines schnell die Verhaltensmuster und Mechanismen seiner Umwelt lernenden und dennoch über die Sinnzusammenhänge der ihn ereilenden Geschehnisse völlig ahnungslosen Protagonisten ein eindrucksvolles Bild über die Hintergründe der ethnischen Konflikte, von rivalisierenden Rebellenorganisationen, Waffen- und Drogenhandel, Korruption sowie Machtmissbräuchen - jenen Phänomenen, die nach wie vor das öffentliche Leben in vielen Teilen Afrikas bestimmen. Spätestens hier wird deutlich, dass das Schicksal Birahimas nur insofern von Interesse ist, als es stellvertretend für eine ganze Generation ihres Glückes beraubter Kindersoldaten und für ganze Heerscharen Leid tragender Zivilisten zu verstehen ist. Er ist eine literarische Figur, die - ganz im Sinne der Tradition pikaresken Erzählens - nichts ist als "erzählerischer Vorwand": Seine Funktion besteht darin, der Gesellschaft, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist, einen Spiegel vorzuhalten und sie durch seine Rolle als Opfer, das zum Täter wird, in all ihrer Abscheulichkeit und Grausamkeit zu entlarven.

Jener Kourouma, der von Afrika immer so vehement gefordert hat, es möge sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, präsentiert uns in "Allah muss nicht gerecht sein" einen gleichermaßen destruktiven wie machtlosen Helden, dem in seiner Ohnmacht nichts anderes übrig bleibt, als all das erlebte Leid einzig dem Willen und Wirken Allahs zuzuschreiben. Birahima, sein kindlicher Held, als Sinnbild des gesamten Kontinents - eines Kontinents in der Krise? Ist Kouroumas Traum von einem offenen und zukunftsfähigen Afrika in seinem letzten, kurz vor seinem Tode veröffentlichten Roman einer Seifenblase gleich zerplatzt?

Es bleibt also die Frage nach dem Kuorouma'schen Optimismus bzw. nach der Hoffnung in diesem Werk. Vielleicht ist sie darin zu sehen, dass er trotz aller Tragik auch in diesem Roman dem farbenfrohen Afrika, den vielfach beschworenen Mythen und dem geheimnisvollen Zauber seiner Heimat nicht abgeschworen hat. Vielleicht ist sie darin zu sehen, dass er all der Brutalität des Erzählten soviel Witz und Leichtigkeit entgegenzusetzen vermochte. Vielleicht ist sie aber auch einfach nur darin zu sehen, dass er dieses sehr lesenswerte Buch geschrieben hat und uns - auf gewohnt (selbst-)kritische Art und Weise - "sein Afrika" als einen Kontinent zeigt, der zwar seine Literatur, noch lange aber nicht sich selbst gefunden hat.

Allah muss nicht gerecht sein
Allah muss nicht gerecht sein
222 Seiten, broschiert
aus dem Französischen von Sabine Herting
Goldmann 2004
EAN 978-3442457328

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