Das unkorrekte Sujet
"Das kleine Püppchen will spielen." Welch grausame Tragweite dieser eine Satz am Ende des Romans entfaltet, mag so manchen Leser schockieren und etwas benommen zurücklassen, ganz so wie seinen Protagonisten, Caryl, den Sohn von Alice. Der amerikanische Originaltitel "Alice at 80" beschreibt vielleicht noch etwas besser, worum es in diesem Roman geht. Alice (ja, genau, die "Alice" aus "Alice in Wonderland") ist inzwischen 80 geworden, hat geheiratet und einen Sohn und jeder der anderen Protagonisten versucht ihr Geheimnis herauszukriegen, ob ihr Schöpfer, Lewis Carroll, sie nun als Kind sexuell missbraucht hat oder nicht. Alice ist die reale Figur, das Mädchen, das sich der Autor Carroll zum Vorbild für seine "Alice in Wonderland" genommen hat, aber auch für alle seine anderen Mädchen, die er später für seine Fotos so herrichtete, wie Alice einst ausgesehen hatte. Lewis Carroll war nämlich nicht nur Professor am Christ College in Oxford für Theologie, Mathematik und Literatur, sondern hatte auch eine heimliche Leidenschaft: die Fotografie. Allerdings das Fotografieren von kleinen Mädchen. Kindesmissbrauch ist nun allerdings ein Thema, das sehr behutsam behandelt werden muss und das gelingt David R. Slavitt zweifellos.
Tatsächlich hatte im Herbst des Jahres 1932 die Columbia-Universität in New York in einer feierlichen Zeremonie der 80-jährigen Alice Liddell die Würde einer Ehrendoktorin für ihre Verdienste um die Literatur, die sie sich als kleine Anregerin der genial-absurden Märchen von Lewis Carroll erworben hatte, verliehen. Das hat nicht der Autor Slavitt erfunden, sondern ist historisch verbürgt. Slavitt hat dieses Buch in den 80er Jahren geschrieben, er selbst ist Jahrgang 1935 und dürfte die Geschichte also nur mehr aus Erzählungen mitgekriegt haben. Ihn hat in seinem Roman vor allem interessiert, wie Alice mit all den Fragen der neugierigen Journalisten, Verwandten und Freundinnen umging, aber auch wie loyal sich ihr Ehemann zu ihr verhielt. Dieser ist nämlich der eigentliche Protagonist der ersten Hälfte des Romans, bis er etwa in der Mitte stirbt und sein Sohn Caryl die Rolle des Hauptakteurs übernimmt. Beide Männer haben gemein, dass sie gerne Freudenhäuser besuchen und ersterer, der Vater, erfährt die Geschichte von Alice und Carroll auch aus dem Munde einer Puffmuttter, die selbst einmal eine Gespielin Carrolls war und von ihm als Alice "hergerichtet" wurde.
"Der beste Weg, die Wahrheit herauszufinden, ist auch heute noch, jemand anderem alles zu erzählen - und so ein bisschen Ordnung zu schaffen und alles zu sortieren", schreibt Slavitt gegen Ende des Romans und man möchte ihm gerne glauben, auch wenn die Wahrheit manchmal sehr große Schmerzen verursacht, ist es doch besser ein bisschen zu leiden, als in der Lüge zu leben. Aber wer hält sich schon dran? Denn wie viel nun Slavitts Lewis Carroll mit dem realen Lewis Carroll zu tun hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Dass am Ende der Sohn von Alice ähnliche Neigungen nicht nur entwickelt, sondern sie in New York ("Es hat etwas Glamouröses, hier als der verdorbene Ausländer mit bizarren Neigungen aufzutreten") auch noch auslebt und dabei ganz nebenbei das Vermögen seiner Frau und Mutter verprasst, lässt den Schluss zu, dass der Apfel eben doch nicht weit vom Stamm fällt. Alice über alles!

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