Similia similibus curantor: ein Roman über den Begründer der Homöopathie
"Du solltest allmählich anfangen, Ordnung in die wachsende Zahl deiner Feinde zu bringen, damit du sie nicht eines schönen Tages miteinander verwechselst!" fordert Henriette Hahnemann ihren Mann auf. Es handelt sich um Christian Friedrich Samuel Hahnemann, auf dessen Schrift "Organon der rationellen Heilkunde" sich die Homöopathie begründet. Feinde dieser Heilmethode gibt es noch immer: Menschen, die sie grundsätzlich ablehnen, sie milde lächelnd abtun oder im schlimmsten Fall mit Scharlatanerie gleichsetzen. Somit kann man die enormen Schwierigkeiten und Anfeindungen gegen Hahnemann, der im 18. Jahrhundert lebte, verstehen. Die Medizin seiner Zeit berief sich noch auf die Körpersäfte, die bei Krankheit in Unordnung geraten waren. Senfpflaster, Schröpfen und Aderlass waren u.a. Mittel der Wahl, das Ungleichgewicht der Säfte zu beseitigen. Noch heute beschränken sich manche Lexika auf den lapidaren Hinweis "Begründer der Homöpathie" unter dem Eintrag Hahnemann, das medizinische Wörterbuch "Pschyrembel" verzichtet gleich ganz auf einen eigenen Eintrag unter Hahnemanns Namen. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt. Hahnemann entwickelte eine Theorie, die auf Paracelcus aufbaute und seine eigenen Beobachtungen an Kranken mit einschloss. Er publizierte dazu und machte sich Feinde, denn Sätze, wie den im Roman zitierten "Eine Menge Ursachen haben seit einigen Jahrhunderten die Würde der praktischen Heilkunde zur elenden Brotklauberei, zur Symptomenübertünchung, zum erniedrigenden Rezepthandel heruntergetrieben" konnten bei Ärztekollegen und Apothekern wahrlich keine Begeisterungsstürme hervorrufen. Hahnemanns Theorie gipfelte in der Aussage "Similia similibus curantur -Ähnliches durch Ähnliches heilen". Dies wurde zum Grundsatz der Homöopathie. Der jetzt erschienene Roman "Die Gewölbe des Doktor Hahnemann" des in Heidelberg geborenen und in Hassloch lebenden Guido Dieckmann zeichnet das Leben des Arztes nach und bearbeitet es fiktional. Was trieb ihn an, was für ein Mensch war er? Das sind die Fragen, denen der Roman Dieckmanns, den manche vielleicht als Autor von "Die Poetin" schon kennengelernt haben, nachgeht. Entstanden ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der schon früh weiß, dass er zur Schule gehen und Medizin studieren will, er aber als Sohn eines Porzellanmalers nicht die Mittel dazu haben wird. Da macht er die Bekanntschaft eines Italieners, der ihm zu der gewünschten Ausbildung verhilft. Hahnemann studiert, wird Arzt und lehnt sehr bald die althergebrachten Heilmethoden ab, die Theoretiker sind ihm ein "schier unentwirrbares Gemisch von Systemen und Behandlungsmethoden". Er wird zum Forscher und Visionär, wobei seine Kompromissbereitschaft, glaubt man dem Roman, nicht gerade groß war. Er begibt sich auf die Suche nach neuen Mitteln, die verträglicher für die Patienten sein sollen. In die Geschichte eingebunden sind die Verfolgungen Hahnemanns durch eine Geheimloge, den Gorgonenorden, die auf verschollen geglaubte Aufzeichnungen des Paracelsus aus sind. Dieser Teil des Romans ist etwas flach, wirkt nicht ganz stimmig, denn die Verfolgungen durch die Loge erscheinen halbherzig, was der Wichtigkeit des bei Hahnemann vermuteten Schriftstückes widerspricht. Zugunsten einer lebendigeren und spannenderen Erzählung war die Geheimloge aber wohl notwendig. Der Hauptton der Erzählung soll auch auf Hahnemanns Entdeckungen liegen, welche im letzten Teil des Buches am überzeugendsten dargestellt werden. Dies gilt auch ür die Beschreibung von Hahnemanns privatem Leben, also seiner familiären Beziehungen. Gegen Ende des Romans wird Hahnemann zu einem Menschen aus Fleisch und Blut. Kann der Roman die Fragen nach seinem Leben und seinen Motiven beantworten? Ja und nein. Ja, nach der Lektüre weiß man etwas mehr über den Menschen Hahnemann, insbesondere seine Kindheit (auch wenn diese dem Nachwort nach mehr fiktionaler Natur ist) und die letzten Jahre vor dem Durchbruch seiner Lehre. "Ihr Mann hat eine Vision, Madame (..) Er sieht Dinge, die vor den Augen anderer unsichtbar bleiben, weil die sie nicht sehen wollen. (...) Aber glauben Sie mir, Madame: Dr. Hahnemanns Experimente mit den Heilpflanzen werden eines Tages die eitlen Professoren zum Verstummen bringen." Der Mann soll Recht behalten. Der Leser erfährt etwas über die Motivation Hahnemanns, wobei die mittleren Jahre in der Darstellung etwas blass geraten sind, die Eindrücke der Lektüre schnell vergangen. Und dies erklärt das "Nein" auf die obige Frage. Es tun sich einige Lücken auf in der biografischen Gestaltung des Romans, die dramaturgisch mit Zeitsprüngen gelöst werden. Manchmal lässt dies den Leser mit unbeantworteten Fragen zurück, die genaugenommen nebensächlich sind, aber dem Leser eines biografischen Romans dennoch durch den Kopf gehen. Es sind Fragen nach persönlichen Dingen im Leben des Hahnemann. Wie war die Reaktion der Eltern auf die Nachricht, dass Fremde ihm den Besuch der Fürstenschule finanzieren werden? Später wiederholt sich das in der Beziehung zu Hahnemanns Frau. Sie lernten sich unter ungewöhnlichen Umständen kennen, nämlich auf der Flucht vor der Gorgonenloge, die beide zwang, das Land zu verlassen. Sie ging einige Jahre als Gouvernante nach England, er nach Wien zur Fortsetzung seiner Studien. Nachdem sie zufällig Jahre später wieder zusammentreffen, bittet Hahnemann sie sofort, seine Frau zu werden, er hatte sie nie vergessen. Doch über die Loge und das Ergehen in der Fremde wird im Gespräch zwischen den beiden kein Wort verloren. Hahnemann will vergessen, doch sie fragt auch nicht. Das sind aber kleinere Mängel. Insgesamt betrachtet, ist der Roman lesenswert, schon allein um einer breiteren Öffentlichkeit die Möglichkeit zu bieten, sich Hahnemann auf unterhaltsame Weise zu nähern. Der Roman endet um 1812/13 mit dem Durchbruch der neuen Lehre, die vom Brockhaus auf das Jahr 1810 datiert wird. Hahnemann starb 1843, er wurde 88 Jahre alt.
Die Gewölbe des Doktor HahnemannMeistens kommt es anders, als man denkt
Was ist der Mensch doch bloß für eine Assoziationsmaschine, insbesondere wenn er alleine seine Tage verbringt! Da wird verknüpft und spekuliert ohne Ende. Es genügt ein kleiner Gedanke, ein Bild, ein Wort, der Anblick eines Gegenstandes und die Assoziationen machen sich breit, gehen über in ganze Geschichten, die dann mit Farbe und Leben gefüllt werden müssen. So zumindest geht es dem Ich-Erzähler Raimund Auweiler in H. W. Kettenbachs neuem Roman "Die Konkurrentin". Auweiler, Hausarzt im Ruhestand, die Praxis übernahm Tochter Clara, ist mit der 17 Jahre jüngeren Lene, Lokalpolitikerin, seit nun schon 34 Jahren verheiratet. Neben Clara gibt es noch den Sohn René, beide aus der ersten Ehe und schließlich aus der Verbindung mit Lene die jüngste Tochter Birgit. Lene kam über die Arbeit in Bürgerinitiativen zur Politik und brachte es bis zur Bürgermeisterin. Nun ist sie als Kandidatin für die kommende Oberbürgermeisterwahl im Gespräch. Und mit dieser Nominierung, denn mehr ist es bislang nicht, beginnt sich das Denkkarusell für Raimund zu drehen. Schließlich gibt es einen Mann in Lenes Partei, dem es gar nicht gefallen wird, dass seine eigene Aufstellung als Kandidat gefährdet wird und bestimmt sucht er nach Mitteln und Wegen dies zu verhindern. Auweiler überlegt, ob es in Lenes Vergangenheit etwas gibt, was ihre Nominierung gefährden könnte. Raimund fällt sofort die Fahrerflucht nach einem kleinen Blechschaden auf einem Parkplatz ein. Doch das ist nicht alles; je mehr Auweiler sich in seinen Gedanken verstrickt, desto mehr findet bzw. glaubt er zu finden: Lenes vorbestrafte und alkoholkranke Schwester, vielleicht aber hatte Lene auch Affären, wer weiß das so genau, Gelegenheit hätte sie genügend gehabt. Und was war mit dem Jungen aus Lenes Abiturklasse, der bei einem Ausflug ums Leben kam? Auweiler weiß natürlich überhaupt nichts und alles, was er sich so ausmalt, ist auch nur ausgedacht. Allerdings wird seine Fantasie auch angestachelt, erhält er doch Anrufe mit Bitten um Treffen von Leuten mit denen er seit Jahr und Tag nichts mehr zu tun hatte. Auweiler ist überzeugt, da braut sich etwas zusammen! Auf einer zweiten Ebene erzählt der Roman weniger von der Politik als von Raimunds Einsamkeit in seinem Rentnerdasein, das zwar angefüllt ist mit Literatur, der Beschäftigung mit den Enkeln und den Verpflichtungen als Hausmann, ihm jedoch gleichzeitig viel zu viel Raum zum Denken und Spekulieren lässt, ihn nicht ausfüllt. Für den Leser ist das ganz wunderbar, Raimund jedoch bringt es um den Schlaf. Immerzu muss er sich vorstellen, was geschehen könnte. Einige der Gedankenspiele sind unnötig, wären im Gespräch mit Lene zu klären, doch ist ihm Bange vor dem Ergebnis, dass seine Fantasien Wahrheit werden könnten. Da ist es besser sich weiter zu ängstigen. Die Gedankenspiele des Raimund Auweiler stehen sicherlich auch als Exempel für die Machtspiele der großen Politik und des Menschen an sich. Hier wie dort, ob lokal oder bundespolitisch geht es im Grunde des Politikerherzens um Macht und weniger um Kompetenz. Aber, weiß Auweiler, die Politik wird benötigt und mit ihr die Presse, die bei allzuviel Machtgerangel als Kontrollorgan dienen sollte. Dass dieses System nicht immer so funktioniert wie gedacht, weiß der ehemalige Journalist Kettenbach ebenso wie seine Figur Auweiler. In Auweilers Worten: "Die Politik verdarb den Charakter, natürlich, aber es gab offensichtlich Fälle, in denen man Politiker brauchte und sogar willkommen hieß, weil sie das zu erledigen vermochten, was einem selbst lästig war oder zu mühsam, mit zuviel Verantwortung beladen oder hin und wieder, so war jedenfalls anzunehmen, auch zu schmutzig. Natürlich konnte man die Politiker bei solchen Geschäften nicht sich selbst überlassen, aber das tat man ja auch nicht, denn schließlich gab es die Presse, die dafür bezahlt wurde, daß sie den Politikern auf die Finger sah, und so sollte eigentlich auch nach meinem Geschmack alles vorzüglich geregelt sein. War es aber nicht." Und doch ist der Roman keine Kritik an den Zuständen, er ist eher eine Bestandsaufnahme, und dies auf äußerst witzige und humorvolle Art. Dazu gehören nicht zuletzt die Treffen mit seinem kleinen Enkel Daniel, Auweilers Beschreibungen und Eindrücke der eigenen Kinder, seine Reflektionen über das Altern und seine Ehe mit Lene. In den beiden letzteren Gedankengängen liegt schließlich auch ein Großteil der Probleme Auweilers begraben, denn er hat zuviel Zeit, fühlt sich nicht mehr ernstgenommen. Ist das Buch als Darstellung einer bundesrepublikanischen Realität zu lesen? Ich denke, dies wäre überanalysiert. Es ist ein Text über Raimund Auweiler, der in dieser Gesellschaft lebt, sie beobachtet und mit früheren Jahren vergleichen kann, und nur insofern ist der Roman ein Text über die hiesige gesellschaftliche Realität. Auweilers Probleme sind nicht spezifisch deutsch. Machthunger, Intrigen, Einsamkeit findet man auch anderswo. Mit Raffinement, denn es gehört einiges dazu, einen Leser in einem handlungsarmen Roman bei der Stange zu halten, führt Kettenbach diesen an der Nase herum, macht ihn zum Kollaborateur Auweilers, denn unwillkürlich beginnt man des Arztes Fantasien beim Lesen weiterzuspinnen und fragt sich nach der Lektüre, ob da nicht noch mehr war. Raimund Auweiler läuft Gefahr sich um Kopf und Kragen zu denken. Zum Glück läuft die Lawine, die er begann loszutreten, ins Leere. Es kommt nämlich meistens anders, als man denkt.
Die KonkurrentinVerpasste Gelegenheiten
Was schreibt man über einen Roman, der einen zu Tränen gerührt hat? Vielleicht beginnt man mit dem Versuch, die Handlung zu beschreiben. Im Falle von "Die Unbehüteten" kann dies nur grob geschehen, da die Ungarin Agnes Gergely in ihrem Roman die Betonung auf das innere Erleben der Protagonisten legt und die Sätze, welche den Fortgang der Handlung an sich beschreiben, auf ein Minimum beschränkt sind. Die Handlungszeit dieses 192 Seiten Romans zieht sich über mehrere Jahre hinweg. Karen, Übersetzerin und Schriftstellerin aus Budapest wird mit 40 Jahren Mutter. Drei Jahre später verliert sie ihren sieben Jahre älteren Mann Zoltán, und sieht sich ganz plötzlich durch den Unfalltod ihres Cousins und seiner Frau mit der Verantwortung für ein weiteres Kind, Detti, zwei Jahre älter als ihre Tochter Daniela, konfrontiert. Beide Kinder sind ungewöhnlich talentiert, Daniela schreibt Gedichte, Detti musiziert. Auf einer Reise nach Skandinavien lernt Karen den ebenfalls verwitweten Carlos kennen, er ist in der Filmbranche tätig. Sie fühlen sich zueinander hingezogen, Carlos besucht sie in Ungarn. Eine Heirat wird geplant, doch plötzlich darf Carlos aus politischen Gründen nicht mehr einreisen. Karen bekommt nur alle paar Jahre eine Erlaubnis zur Ausreise, die auch jedesmal mit einem Forschungsvorhaben begründet werden muss. Das große Thema dieses in Ungarn im Jahre 2000 erschienenen Romans, ist die Macht der Vergangenheit in der Gegenwart. Es geht darum, diese Macht zu überwinden, ohne zu vergessen und der Zukunft eine Chance zu geben. Die erwachsenen Protagonisten in "Die Unbehüteten" haben alle ihre persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen mit dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg. Carlos ist dänisch-deutscher Abstammung, mit dänischer Hilfe gelang es der Familie nach Südamerika zu flüchten und "aus Carl-Gustav wurde Carlos". Karen verdankt den Dänen die Rettung ihres Lebens. Carlos war im Lager Sachsenhausen, der Vetter Karens Antal in Birkenau. Die Männer haben gegensätzliche Strategien mit diesen Erfahrungen umzugehen. Antal vermeidet alles, was ihn an die Zeit erinnert, läßt die Vergangenheit nicht in die Gegenwart dringen. Zumindest glaubt er das. Der Unfall, bei dem er ums Leben kommt, läßt allerdings zweifeln, ob Antal mit seiner Strategie Erfolg hatte. Carlos dagegen will alles wissen, er nutzt seinen Beruf, die Geschehnisse von Besatzung und Widerstand nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und aufzuarbeiten. In diesem Sinn hat Zeit hat für ihn keine Bedeutung. Bei Karen und den Mädchen will er seinen Durst nach Familie, Leben und Liebe löschen, doch auch Verantwortung übernehmen, die Mädchen und Karen behüten. Was aber ist es, das zu Tränen rührt? "Die Unbehüteten" ist nicht nur ein Text über die Vergangenheit, sondern auch über verpasste Gelegenheiten, über Hoffnungen und Sehnsüchte, die Liebe und den Tod. Karens Leben ist von unsäglichen Verlusten und unerfüllten Hoffnungen geprägt. Sie ist nicht "zum Weglaufen geboren", sie kehrt von den Auslandsreisen immer wieder nach Ungarn zurück, selbst dann, als sie gemeinsam mit den beiden Mädchen nach Skandinavien reist. Sie denkt nicht einmal daran, dass sie Carlos oder ihren schwedischen Verlag bitten könnte, ihr behilflich zu sein, außerhalb Ungarns ein neues Leben zu beginnen. Der Tod ist ihr ein allgegenwärtiger Begleiter, und es geht dabei nicht nur um die Toten der Vergangenheit. Sie muss so viele geliebte Menschen in so kurzen Zeitabständen verlieren, dass man sich fragt, wie kann sie das nur aushalten, wie kann das überhaupt jemand aushalten? Wahrscheinlich nur, weil der Tod nicht als Endpunkt verstanden wird, denn "Du wirst sehen, sie kommen alle zurück. Gib nur Acht. Verpaß den Augenblick nicht wieder." Mit dieser Aufforderung des Steuermannes, der den Roman einrahmt, denn er spricht auf der ersten und der letzten Seite zu Karen, und gibt sich damit als Steuermann ihres Lebens zu erkennen, werden wir aus dem Text entlassen. Es bleibt die Erkenntnis, dass nichts wichtiger ist, als aufzupassen, den Augenblick zu erkennen und zu nutzen. Wie hieß es in der Antike? "Carpe diem".
Die UnbehütetenKatatonie
Der New Yorker Peter Moore Smith macht uns in seinem Debütroman mit den Untiefen des menschlichen Gehirns und der Psyche bekannt. "Die vergessene Zeit" erzählt die Geschichte zweier sich ungleicher Brüder und ihrer Familie, den Airies. Einst bestand diese aus den Eltern und drei Kindern, bis die kleine Tochter Fiona eines Abends spurlos verschwand und ihr Schicksal nie aufgeklärt werden konnte. In der Folge trennten sich die Eltern. Der ältere Bruder Eric entwickelte einen extremen Ehrgeiz und wurde Gehirnchirurg. Seinem Bruder Pilot dagegen gelang es nicht, Fuß zu fassen. Die Handlung setzt 20 Jahre nach dem Verschwinden Fionas ein. Pilot kommt mit seinem Leben nicht mehr klar, Eric holt ihn nach Hause. Die Mutter leidet an einer unerklärlichen Sehschwäche, sie nennt es "Gespenster sehen". Eines Tages, Pilot ist auf dem Weg die Mutter abzuholen, kommt er nicht am Ziel an. Drei Tage später wird er im Wald, der an das Grundstück der Airies grenzt, aufgefunden. Er hat einen psychotischen Schub erlitten und wird in die Psychiatrie eingewiesen. Die Diagnose lautet zunächst Schizophrenie. Doch zweifelt die Therapeutin Katherine, ob Pilot wirklich schizophren ist und beschäftigt sich deshalb mit dem Geschehen um Fionas Verschwinden. Sie beginnt nachzuforschen. 20 Jahre lang Katatonie, 20 Jahre lang Stillhalten der Beteiligten, 20 Jahre lang Verdrängungsmechanismen, und dann das Bewusstwerden der Erinnerung, so könnte man den Roman auch beschreiben. Der Originaltitel ist "Raveling", was so viel heißen kann wie "verwirrend". Verwirrend sind die Fallstricke unseres Gehirns und die Täuschungen, denen Erinnerungen erliegen können bzw. die Unsicherheiten an einer Erinnerung. Die Protagonisten sind verwirrt, nicht unbedingt in einem krankhaften Sinn. Doch verwirrt, weil plötzlich Gedanken und Gefühle auftauchen, vor denen sie immer geflüchtet waren. Es ist, als hätte Fiona beschlossen, dass 20 Jahre Geheimnis genug sind, und die Wahrheit nun ans Licht muss. Es ist natürlich nicht Fiona, sondern Pilot, der die Dinge in Gang bringt. Sein Unterbewusstsein und seine Therapeutin ermuntern ihn, die erlebte Wahrheit ans Licht kommen zu lassen, das Knäuel von Gefühl und Erinnerung, von Täuschung und Realität zu entwirren. Ungewöhnlich ist die Erzähltechnik von Smith. Der Roman ist aus der Sicht Pilots erzählt, doch in verblüffender Weise besteht die Erzählhaltung sowohl aus der ersten und der dritten Person und trägt erheblich dazu bei, die Motivation des Buches zu beschreiben und real zu machen. Der Leser ist zunächst irritiert, erkennt jedoch sehr schnell, dass das Buch und der Spannungsverlauf von diesem stilistischen Mittel lebt und profitiert. Zudem gelingt es Smith einen Begriff darüber zu vermitteln, wie man sich wohl unter dem Einfluss von Psychopharmaka fühlt. Dieser psychologische Roman entwickelt auf den letzten 100-150 Seiten die meiste Spannung, zuvor glaubte der Leser sich ein Bild machen zu können, die Geschehnisse einordnen zu können. Doch dann kommt plötzlich Unsicherheit auf, denn immer dann, wenn man glaubt, die Lösung zu kennen, wird sie wieder in Frage gestellt.
Die vergessene ZeitMargarete I.
Margarete I. , Königin von Norwegen, Dänemark und Schweden wurde 1353 geboren. Sie war die Tochter des dänischen Königs Valdemar IV. und wurde 1363 mit dem Norweger Hakon verheiratet, der jedoch schon 1380 starb. Das Paar hatte einen Sohn, Olaf, der für die Regierungsgeschäfte noch zu jung war und so regierte Margarete als seine Stellvertreterin. Nach dem frühen Tod ihres Sohnes wurde Margarete zur Fürstin des Reichs Dänemark gewählt, bald darauf auch für Norwegen. Schweden musste sie sich erobern, was ihr aber auch gelang. Margarete war es daran gelegen, die drei Länder unter einem König zu vereinen. Sie hatte den Enkel ihrer Schwester Ingeborg, Erik von Pommern, dazu ausersehen. Ihr Vorhaben gelang, Erik wurde zum König gewählt. Nach Erreichen seiner Volljährigkeit übernahm Erik die Regierung, allerdings behielt Margarete ihren Einfluss. Die 1956 geborene Dänin Maria Helleberg verfasste eine Romanbiografie um Margarete I. und schrieb damit ein Buch, welches in Skandinavien zum Bestseller avancierte. Helleberg schildert in "Die Winterkönigin" das Schicksal der kleinen Königin, die trotz ihrer Jugend und ihres zierlichen Wuchses eine starke Frauenpersönlichkeit war, die die Geschicke ihrer Familie und ihres Landes zu lenken wusste. Immer hatte sie ein Ziel vor Augen. Im Roman werden die Geschehnisse aus der Sicht Margaretes erzählt und der Leser erlebt eine Königin, die als komplexe Persönlichkeit dargestellt ist. Helleberg zeigt, dass Regieren eine immense Belastung sein kann und dass es viel persönliche Stärke und gleichzeitig Zurückhaltung braucht. Margarete ist auf sich gestellt, sie erfährt trotz ihrer Herkunft und Funktion auch Armut. Sie hat keine wirklichen Vertrauten, sie muss nach außen immer als starke Frau auftreten und ihre Ziele im Auge behalten. Margarete liebt ihren Mann Hakon, den eigentlichen König. Doch er ist schwach, er leidet unter der Schuld, die seine Familie in der Vergangenheit auf sich geladen hat und glaubt, dass er dafür büßen muss. Die Schuldgefühle enden letztlich in seinem Selbstmord. Und so muss die kleine Königin schon zu Hakons Lebzeiten die Zügel in die Hand nehmen. Wie ihr Vater ist sie eine Visionärin, die weiß, was sie erreichen will und deshalb die Kraft aufbringt, alle Widerstände zu brechen. Anfangs noch geleitet von Moral, erlebt Margarete, dass Macht ihre Schattenseiten hat, und dass auch sie nicht ohne Schuld geblieben ist: "Sie hatte immer geglaubt, daß sie es schaffen würde, Macht auszuüben, ohne zu sündigen. Doch das war unmöglich." Die 440 Seiten des Romans geben einen Einblick in die schwierige Regentschaft der kleinen Königin und erlauben einen Rückblick in die skandinavische Geschichte der Königshäuser. Es ist eine Geschichte, die so gänzlich anders ist, als man sich landläufig das Leben in einem Königshaus vorstellt.
Die WinterköniginNervige Figuren
Colin lebt in einer kleineren englischen Stadt, arbeitet bei der Stadtverwaltung und besucht fast täglich seine Mutter. Die zeigt ihre Freude, indem sie immerzu stichelt und Gemeinheiten von sich gibt. Colins Zwillingsschwester Tilly hat sie so schon auf Dauer vertrieben und Tilly hat den Kontakt zur Mutter abgebrochen. Colin aber ist aus anderem Holz geschnitzt, er ist zu schüchtern seine Meinung zu vertreten. Dieser neue Roman Anne Fines, bei Diogenes erschienen, könnte witzig sein und doch fiel es mir schwer, bei der Lektüre auch nur zu lächeln. Warum? Colin, seine Mutter, die Schwester Tilly -, alle Hauptprotagonisten haben das Zeug, einen zum Lachen zu bringen: Colin ist ein unglaublicher Chaot, die Kommentare der Mutter über Zeitungsartikel oder ihre Mitmenschen entlarven sie selbst und Tilly ist in ihrer selbstgerechten Art auch nicht viel besser als die Mutter. Sie läßt Menschen, die ihr eben noch etwas bedeuteten, fallen wie eine heiße Kartoffel. Warum also will sich das Lachen nicht einstellen? Es wird wohl daran liegen, dass keiner der Charaktere den Leser erobern kann, es gibt keinen Roman"helden", weder im positiven noch im negativen Sinn. Colin lernen wir am besten kennen, da er als Hauptfigur auch sein Innenleben präsentiert, aber sympathisch wird Colin nicht. Seine Unkonzentriertheit und seine Schüchternheit nerven bald, denn Colins Persönlichkeit weist einen Bruch auf. In seinem Beruf steht er seinen Mann, schlichtet Streit, mahnt Menschen ab, erteilt Anweisungen. Er traut sich etwas, ist aber kaum in der Lage, dies auf sein Privatleben zu übertragen. Der Roman entwickelt keine Sympathieträger, aber auch niemanden, der als "bad guy" faszinieren könnte. Die Figuren sind einfach nur anstrengend, sie sind manchmal schwer zu ertragen und - ihr größtes Manko - sie überzeugen dabei nicht. Anne Fine hat mit ihrem Personal, der deutsche Titel trifft hier unfreiwillig ins Schwarze, zuviel des Guten getan. Diesen Eindruck ändert auch nicht das Thema des Romans, der doch satirisch des Menschen Problem mit dem Altern und dem Umgang mit alten Menschen behandeln will. Dies ist schade, denn dieses Thema ist es wert, dass man sich seiner annimmt und mit Witz und Charme würde sich man ihm auch am angemessensten nähern. Anne Fine ist ja eine erfahrene und erfolgreiche Autorin, insbesondere wurde sie mit Büchern für Jugendliche bekannt. Und in diesem Zusammenhang fällt einem doch noch eine Figur ein, die in diesem 315 Seiten Roman sympathisch und treffend geschildert wird: es ist die 3-jährige Tammy, von Colin wie ein eigenes Kind geliebt. Vielleicht ist Fines wirkliches Genre ja doch die Literatur für die kleinen Menschen.
Zuviel des GutenMissbrauch der Religion
Nafa Walid träumt. Er ist überzeugt davon, dass er der geborene Schauspieler ist, muss sich jedoch mit der Rolle des Chauffeurs bei der einflussreichen und reichen Familie Raja begnügen. Dies geht gut bis in Raja Juniors Bett ein junges Mädchen an einer Überdosis Rauschgift stirbt. Nafa muss helfen die Leiche zu beseitigen. Dieses Erlebnis verändert Nafas Leben. In seiner seelischen Bedrängnis findet er Zuflucht in der Religion und gerät in das Umfeld von Islamisten. Dies ist die Ausgangssituation des neuen Romans von Yasmina Khadra, einem Autor, der 1956 in Algerien geboren wurde und eigentlich Mohammed Moulessehou heißt. Moulessehou/Khadra war ein hoher Offizier der algerischen Armee und wurde im algerischen Bürgerkrieg Zeuge der sinnlosen Gewalt der Islamisten und ihrer selbstgerechten Art. Seit 2000 lebt Moulessehou mit seiner Familie in Frankreich und konnte erst im Exil sein Pseudonym lüften. Bekannt wurde er bislang mit Kriminalromanen. In "Wovon die Wölfe träumen" gelingt es Khadra über die Schilderung des Lebens Nafa Walids darzustellen, wie ganz normale Menschen in den Sog von Extremisten gelangen können. Er kann auf Algerien und die Islamisten begrenzt gelesen werden, doch kann er auch so gelesen werden, dass Algerien nur als Beispiel fungiert. Damit ist der Roman dann nicht begrenzt auf den Islam, er zeigt nur anhand der Islamisten, was auch in anderen fundamentalistischen Strömungen möglich sein kann und ist. Dies macht die eigentliche Brisanz des Romans und den Verdienst Khadras aus und vermag in Ansätzen das notwendige harte Vorgehen nach dem 11. September erklären. Jegliche extremistische Strömungen, seien sie christlich-fundamentalistisch oder islam-fundamentalistisch missbrauchen die Religion. Menschen, die sich nicht respektiert fühlen sind schnell Opfer der Bauernfänger. So treten auch die Islamisten in Khadras Roman den Bauern gegenüber als Gutmenschen auf: "Er [der Emir, also der Anführer] sorgte sich um die Gesundheit der Alten und der Kinder, er brannte niemals eine staatliche Schule nieder, ohne nicht zugleich eine Koranschule zu eröffnen, befreite die Dörfer von den Blutsaugern des Regimes und begeisterte die Jugend durch mitreißende Predigten." Manchmal liegt die Dramatik nicht einmal im Zulauf zu fundamentalistischen, nationalistischen oder auch kriminellen Organisationen, sondern viel mehr in der Unmöglichkeit, sie wieder zu verlassen. Die Strukturen sind so menschenverachtend, dass jeglicher Regelverstoß, und was ein Regelverstoß ist, wird beliebig definiert, den Tod bedeutet. Also passt man sich an, und erhält im Gegenzug Respekt und Vertrauen, so auch Nafa: "Zum ersten Mal im Leben entdeckte er sich selbst, wurde er sich seiner Leistungen bewusst, seines Wertes und Nutzens als Mensch, als Person. Endlich existierte er. Zählte er." Nicht erst seit dem 11. September, doch insbesondere in der Folge dieses Datums, tragen Romane wie "Wovon Wölfe träumen" dazu bei, eine Ahnung der Motivation zu bekommen, die junge Menschen zu Killermaschinen werden lässt und was sie daran hindern kann, sich wieder dem Leben zuzuwenden.
Wovon die Wölfe träumenGeschichten, die das Leben schreibt
"Erzähl diese Geschichte", bittet die krebskranke, im Sterben liegende Eileen ihren Exmann, den Schriftsteller Campbell Armstrong. Es ist die Erzählung, wie Eileens Tochter Barbara nach 42 Jahren ihre Mutter fand. Die Tragik der im Grunde glücklichen Geschichte liegt in der Tatsache, dass nicht nur Eileen schwer an Krebs erkrankt ist, sondern auch die Tochter. Beide wissen, als sie endlich aufeinander treffen, es bleibt ihnen nicht viel Zeit. Eileen war siebzehn, als sie Mitte der 50er Jahre im schottischen Glasgow schwanger wird. Die Eltern sind gläubige Juden, die sich um ihre Tochter sorgen. Sie wollen ihr das Schicksal einer alleinerziehenden, gesellschaftlich geächteten Teenagermutter ersparen und verlangen, Eileen soll das Baby nach der Geburt zur Adoption freigeben. Das junge Mädchen hat keine Wahl. Die Familie zieht für die Zeit der Schwangerschaft an einen anderen Ort, wo man sie nicht kennt. Eileen bringt eine gesunde Tochter zur Welt, die sie Barbara nennt. Einige Tage darauf muss sie sich von dem Kind trennen. Jahre später heiratet Eileen den angehenden Schriftsteller und Lektor Campbell Armstrong, im Laufe der Zeit bekommt das Paar drei Söhne. Schon früh zeichnet sich ab, Campbell hat ein Problem, welches seine persönliche Lebenssituation erheblich beeinflusst und belastet: der Alkohol. Campbell zieht mit der Familie in die USA, unterrichtet an kleinen Universitäten, glaubt durch die Ortswechsel den Alkohol hinter sich lassen zu können, was natürlich ein Trugschluss ist. Nach Jahren wird die Ehe geschieden, Campbell heiratet ein zweites Mal, zieht nach Irland. Eileen bleibt in den USA und baut sich ein eigenes Leben mit erfolgreicher Berufstätigkeit auf. Es trifft sie und die Familie wie ein Schlag als die Diagnose Lungenkrebs kommt, der als inoperabel, weil schon fortgeschritten und metastasierend, eingestuft wird. Es bleibt lediglich so würdevoll wie möglich dem Tod entgegenzusehen. In England lebt Barbara. Schon viele Jahre versucht sie ihre leibliche Mutter ausfindig zu machen, bislang erfolglos. Die letzte Chance ist die Adoptionsstelle von Schottland. Barbara hat Angst. Auch sie wurde mit der Diagnose Krebs, der metastasiert ist und verschiedene Organe befallen hat, konfrontiert. "Ich sehe dem Tod ins Auge. Ich muß meine Mutter sofort finden.", schreibt sie auf. Und tatsächlich, sie erhält einen Namen in Schottland, ihre Mutter stammte von hier. Jetzt hat sie einen Anhaltspunkt, der ihre Recherchen vorantreibt. Sie macht Eileens Bruder Sidney ausfindig, erhält von ihm die Auskunft, die Mutter lebt todkrank in den USA. Er hält sie hin, verständigt die Schwester nicht sofort und leitet Barbaras Brief an die Mutter nicht weiter. Nach einigen Wochen reißt Barbara der Geduldsfaden, die Angst zu spät zu sein, läßt ihr keine Ruhe. Nun übermittelt Sidney den Brief endlich und Barbara erhält einen Anruf, eine Stimme sagt: "Hier ist deine Mutter." Campbell Armstrong hielt sein Versprechen, das er Eileen gab. Er zeichnete mit dem Buch "Ich hoffe, dein Leben war schön" die Geschichte von der Suche und dem Zusammentreffen von Mutter und Tochter auf. Es ist ein bewegendes Zeugnis geworden, niedergeschrieben in mitreißendem und sehr persönlichem Stil. Denn Armstrong ist ehrlich genug, auch seinen Teil an Eileens Leben miteinzubringen. Das Buch ist nicht nur der Bericht über die Suche und das Zusammentreffen von Mutter und Tochter, es ist auch eine Beichte des Kriminalschriftstellers Campbell Armstrong. Offen und ehrlich rechnet er mit sich selbst ab, betreibt vielleicht auch eine Art Exorzismus mit der Hoffnung dem Suchtteufel keine Gelegenheit mehr zu geben, die Macht über ihn zu ergreifen. Und nicht zuletzt ist der Bericht auch eine letzte Ehrerweisung an eine bemerkenswerte und großherzige Frau, Eileen Black.
Ich hoffe, dein Leben war schönDie Welt, wie sie ist
Einen kleinen Einblick erhält man vom Schaffen des langjährigen Stern-Fotografen Jay Ullal, dessen Fotos in dem Band "Man hat nur sieben Leben - Foto-Reportagen, die bewegen" im Aufbau - Verlag in Zusammenarbeit mit dem stern-buch Verlag erschienen sind. An viele der 125 Fotos werden sich die Betrachter erinnern. Sie waren Bestandteile von Reportagen, die vor allem in der Zeitschrift stern, für den Ullal seit 1970 arbeitet, in den vergangenen 30 Jahren erschienen sind. stern-Reporter wie Kai Hermann, Peter-Hannes Lehmann, Erich Follath, Klaus Liedtke und Hajo Löwer berichten in kurzen Beiträgen über die Zusammenarbeit mit Ullal. Es sind Berichte, die einen Fotografen zeigen, der immer versucht hat, die Welt so darzustellen, wie sie ist und dabei den Alltag der Menschen einzufangen. Das Anliegen Ullals, der 1933 in Südindien geboren wurde, war das Leid und das Elend, aber auch den Glanz und Glamour zu zeigen. Neben Bildern vom Bürgerkrieg im Libanon, Kindersoldaten in Honduras und Nicaragua, im Iran und in den Palästinenserlagern wird der Betrachter auch an die Giftgaskatastrophe im indischen Bhopal und die US-amerikanische Invasion Grenadas erinnert, doch finden sich auch Aufnahmen von Prominenten, wie Willy Brandt oder der jungen englischen Königin. Seine Reportageaufträge erledigte Ullal immer ohne Rücksicht auf die eigene Person. Er setzte sich Gefahren aus, blieb dabei der Profi, vertrauend auf die Weissagung zu seiner Geburt, dass er sieben Leben habe. Obwohl manche dieser Stern-Beiträge viele Jahre zurückliegen, erinnert man sich beim Anblick der Fotos sofort an die damaligen Ereignisse, was ein Beweis für ihre dauerhafte Qualität ist. In einem Buch über den Magnum-Fotografen Philip Jones Griffiths heißt es: "Griffiths spricht in seinen Fotos von Liebe, Tod, Frivolität, Politik und nackter Gewalt. Seine Arbeiten kommentieren - häufig ironisch - so gut wie jeden Aspekt des menschlichen Lebens und bieten unvergeßliche Einblicke sowohl in die Verwüstungen als auch in die Schönheit unserer Zeit." Dieses gilt uneingeschränkt auch für das Werk von Jay Ullal.
Jay Ullal - Man hat nur sieben LebenDie Fremden in der Familie
Dieser Krimi ist eine Studie über Familie, diese Menschen, die sich so fremd sein können und von denen man manchmal feststellt, man hat ja keine Ahnung über ihr Denken und Fühlen, kennt nur die Fassade.
Rosas RückkehrFalsche Fährten
Steinfurt im Münsterland, Februar, Fastnachtszeit. Man findet die Leiche einer jungen Frau, noch im Tod eine Schönheit. Der Fund ist bizarr, denn die Leiche, bekleidet nur mit einem Unterkleid, steht gegen einen Baum gelehnt, Hand- und Fußstellung als würde sie Tango tanzen. Verletzungen sind keine sichtbar, doch ist der Körper von Eis überzogen und gefroren. Wer ist die Tote? Zunächst glauben Kommissar Rohleff und seine Mitarbeiter, dass es sich bei dem Fund um eine junge Türkin handelt, wird sie doch auch durch die Mutter identifiziert. Aber dann kommen den Ermittlern Zweifel. Kriminalromane mit lokalem Bezug sind allseits beliebt und sprechen für eine Verbundenheit von Leser und Autor zur geografischen Region. Doch auch Ortsfremde lassen sich gern zu einer Lektüre verführen, läßt diese im besten Fall eine Kopfreise zu dem beschriebenen Ort zu. Eva Maaser stammt aus Westfalen und siedelte auch ihre beiden Krimis - sie eröffnete die Reihe mit dem 2000 erschienenen Roman "Das Puppenkind" - dort an. Neben dem Kriminalgenre ist Maaser noch im Feld des historischen Romans tätig, darunter ihr Debüt von 1999 "Der Moorkönig". In "Tango Finale" beschränkt sich der regionale Bezug mehr oder weniger auf ein "name dropping" und führt Leser und Ermittler denn auch für das letzte Drittel nach Berlin. Hier allerdings ist Ortskenntnis und/oder eine gute Recherche ersichtlich und macht aus dem Münsterländer Krimi fast ein Berlin Buch. Nur die Fahrpreise der öffentlichen Verkehrsmittel lassen erkennen, dass das Manuskript schon länger vorlag, denn die Berliner Verkehrsbetriebe scheinen die Preise mit alljährlicher Regelmäßigkeit zu erhöhen. Interessant sind die Charaktere der Ermittler, der Roman kann hier als eine Verhaltensstudie gelesen werden, was ihm gut bekommt. Näher ausgestaltet sind Kommissar Rohleff und Harry Groß. Rohleff muss sich mit seinen späten Vaterfreuden auseinandersetzen. Die Gefühle zum Sohn sind noch gespalten, denn im Vorfeld der Schwangerschaft seiner jungen Frau musste Rohleff einige ärztliche Prozeduren über sich ergehen lassen, da "die Qualität seines Spermas zu wünschen übrigließ". Seine Unausgegorenheit wirkt sich auch im Verhältnis zu dem Kollegen Groß von der Spurensicherung aus. Seit Rohleff mit einem weiteren Kollegen Harry Groß zu Hause aufsuchte, gärt die Gerüchteküche: "Harry Groß benutzte Taschentücher mit eingesticktem Monogramm, keine Papiertücher wie gewöhnliche Leute, das paßte zu einem Mann mit einer Vorliebe für englischen oder schottischen Tweed, aber paßte es zu einem, der sich zu Hause ausschweifend in schwere Seide hüllte, auf der ein rotgoldener Drache prangte? Rohleff wunderte sich im stillen, allerdings kannte er sich mit Männer von Harrys sexueller Fraktion wenig aus." Wer hier, schon zu Beginn des Romans, entlarvt wird, ist Rohleff und nicht Harry Groß. Rohleff versteht nur den Einheitsmenschen, aber nicht den, der aus dem allgemeinen Schema herausfällt. Harry Groß ist ein Kulturmensch mit Sinn für Ästhetik, für die schönen Dinge im Leben. Dies reicht aus Rohleff zu verunsichern und in Groß einen Homosexuellen zu sehen. Den Vorurteilen sind Tür und Tor geöffnet. Zu Rohleffs und seiner Kollegen vagen Entschuldigung kann angemerkt werden, dass Groß sich in dem Fall der schönen Toten merkwürdig verhält und damit Rohleffs Haltung bestärkt. Harry Groß kannte die Tote, war ihrer Anziehung erlegen, plagt sich aber mit Erinnerungslücken betreffend den Nachmittag an dem er sie aufsuchte. Die Verwicklung ist ihm peinlich und am liebsten würde er den Fall schnell alleine klären, er weiß auch, er würde zu den Verdächtigen zählen, wenn er jetzt seine Bekanntschaft mit der Toten öffentlich machte. So agieren Rohleff und Groß nebeneinander, schleichen umeinander herum wie zwei kampfbereite Raubkatzen, von Verdächtigungen, Vorurteilen und Verletzungen geplagt. Erst nachdem der Fall gelöst und der Vorgesetzte mit sich im Reinen ist, kommen die beiden Ermittler sich wieder näher und man kann annehmen, dass beide etwas über sich und den anderen erfahren haben, was die zukünftige gemeinsame Arbeit positiv beeinflussen wird.
Tango finaleLachen und Weinen liegen beieinander
"Eine Liebe im Exil" ist der Untertitel dieses Buches der Journalistin Barbara Esser. Sie erzählt einen Teil der Lebensgeschichte der heute 87-jährigen Ilse Tysch und ihres Mannes, dem Librettisten Salomon Tisch. Esser rekonstruierte und recherchierte die Geschichte ihrer Großcousine Ilse. Der Wunsch diese Geschichte öffentlich zu erzählen, entstand für die Autorin aus dem Empfinden der Dramatik um diese beiden Leben. Eine Dramatik, die mit der Machtübernahme der Nazis begann. Ilse Löhnhardt verlebte ihre Kindheit in geborgenen Verhältnissen in Böhmen. Ihre Lebenspläne, ein Medizinstudium, zerplatzen wie eine Seifenblase mit dem Machtantritt Hitlers in Deutschland und 1938 verläßt Ilse Aussig in Richtung Dublin. Ihre Eltern sollte sie nie mehr wiedersehen. Salomon Tisch war Anwalt, doch seine Neigung galt der Musik und der Sprache, er begann Libretti zu schreiben und suchte die Bekanntschaft zu Komponisten und Librettisten. Nach dem Anschluss Österreichs kommt Tisch in das Lager Dachau, dann Buchenwald, er überlebt acht Monate Lager und erreicht schließlich nach einer überstandenen Typhusinfektion Großbritannien. Hier lernen Ilse Löhnhardt und Salo Tisch, der sich dann Fred S. Tisch nennen wird, sich kennen. Was diesen Bericht interessant macht ist, ist die Sichtweise und das Motiv des Nichtaufgebens, des starken Überlebenswillens. In der Regel kennen wir Berichte aus den besetzten Gebieten über die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Hier aber wird aus der Sicht der Emigranten aus dem Exil heraus berichtet. Zunächst über die Veränderungen in der Heimat, den immensen Schwierigkeiten, die auswanderungswilligen Juden gemacht wurden, - nicht nur von den Nazis selbst, sondern auch durch die Aufnahmeländer. Bis man ein Visum erhalten hatte, war es oft schon zu spät für eine Ausreise, weil Fristen abgelaufen waren oder kein Geld mehr vorhanden. War die Auswanderung trotz allem geglückt, bedeutete dies nicht, dass man sein Leben einfach weiterleben konnte. Neben den Existenzsorgen blieb die Sorge um die zurückgebliebenen Angehörigen. Einfach zu ertragen waren auch nicht die Anfeindungen im Einwanderungsland, die harmloseste Version waren dabei wohl noch die Benimmregeln, die Großbritannien jedem Flüchtling in die Hand drückte. Man sollte weder Deutsch sprechen noch deutsche Zeitungen lesen, vermeiden über Verhalten oder Kleidung aufzufallen, sich nicht politisch betätigen. Schwerwiegender war da schon die Einteilung in "feindliche" und "freundliche" Ausländer und die Internierungen nach dem Kriegsausbruch. So ist es kein Wunder, dass manche Emigranten Zuflucht in der Religionsausübung suchten und das Heimatgefühl sich über das Essen definierte. Wer es sich leisten konnte, inserierte nach einer böhmischen Köchin. Des weiteren bemüht sich dieses Buch den Umgang der Nazis mit der Unterhaltungsmusik zu zeigen. Neben der Taktik der jüdischen Künstler über Strohmänner zu arbeiten, wurde die Musik von den Nazis regelrecht "entjudet". Libretti wurden plagiiert und umgeschrieben. So auch der größte Bühnenerfolg des Teams Tisch/Lengsfelder "Warum lügst du, Chérie?", dessen Textbuch als "Lüg nicht, Baby" in einer "entjudeten" Fassung im selben Verlag, auch dieser arisiert, erschienen war. Die Handlung wurde nach Schottland verlegt und "das Lied, in dem Tisch und Lengsfelder die Vorzüge des Junggesellendaseins loben, zugunsten einer Ode an die Ehe mit einer Frau "von Rasse' ausgetauscht." Eine Farce der Geschichte ist, dass der Komponist Ende der 50er Jahre Aufsichtsratsvorsitzender der GEMA wurde. Zu Recht fragt Ilse Tysch/Esser: "Ob er wohl wusste, dass die Urheber des Stückes "Warum lügst du, Chérie?" Juden waren, die man um ihre Rechte betrogen hatte?" Auch stilistisch handelt es sich um ein Buch der Erinnerungen. Vergangenheit und Gegenwart wechseln, bedingen sich gegenseitig in den Gedankengängen. Am stärksten ist der Text, wenn er in einfachen, schlichten Sätzen Fakten, wie zur Erschießung der 1000 Menschen aus Wien im litauischen Kaunas, wiedergibt, ohne sie weiter zu kommentieren: "Fred hat nie erfahren, dass seine Eltern unter diesen Toten waren". Barbara Esser musste die mündlichen Erzählungen ihrer Großcousine in Text umsetzen und verifizieren, eine nicht immer leichte Übung. Jedes Kapitel wurde mit Ilse Tysch ausgetauscht und per Email bearbeitet. Faszinierend für die junge Journalistin war die Erfahrung des "unter Tränen lachen" können, dieses Operettenmotiv, welches die jüdischen Emigranten praktizierten. Das Buch wendet sich nicht nur an die Alten zur Erinnerung, es will auch helfen, den Jungen diese Zeit verständlich zu machen.
Sag beim Abschied leise Servus