Die Abhängigkeit des Königs von seiner Mätresse

Ein gelungener historischer Roman, angelegt in Frankreich im 16. Jahrhundert, der sich dank seinen Figuren und Szenenbeschreibungen von anderen Büchern dieses Genres unterscheidet.

Die geheime Königin

Kampf um Malta

Ein (zu) dicker Roman über die türkische Belagerung Maltas und die Rückeroberung der Insel in der Mitte des 16. Jahrhunderts.

Das Sakrament

Zurück ins Leben

Die Geschichte eines invaliden, stummen, zurückgezogen lebenden Mannes, dessen Leben sich ändert, als ein neunjähriger Junge in sein Leben tritt.

Homecoming

Eine Zeitreise in die Frühsteinzeit

Ein anspruchsvoller Krimi, der in der Steinzeit spielt. Eine Zeitreise zu alten Mythen, zu der Grundlage unserer Kultur.

Lasra und das Lied der Steine

Die Fremden in der eigenen Familie

Ein Vater von fünf Kindern, der vielmehr mit Abwesenheit als mit Zuneigung glänzte, stirbt. Wir lesen die unterschiedlichen Reaktion der Kinder auf diese Nachricht, ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen.

Der längste Tag des Jahres

Chinesische Geschichte belletristisch vermittelt

Eine Familiensaga, die Einblicke in die gesellschaftlichen Werte Chinas gibt.

Das Lied der Hoffnung

Zwei finnische Krimis mit aktuellen Kommentaren

Zwei finnische Krimis, in denen nicht nur Verbrechen aufgeklärt, sondern auch aktuelle gesellschaftliche und politische Themen kritisch aufgegriffen werden.

Finnisches Requiem / Finnisches Roulette

Das Leben als Zufall

Dass Homer Idlewildes lebt, ist eigentlich Zufall. Und so zieht sich der Zu-Fall weiter durch sein Leben.

Das zufällige Leben des Homer Idlewilde

Ein Überfall, ein Windhund, ein Zeitungsartikel

Tess Monaghans Ermittlungsarbeiten in der Redaktion einer Lokalzeitung fangen harmlos an, entpuppen sich aber als ziemlich abgründig.

Charm City

In Schweden auf der Bestsellerliste

Ein verzwickter Kriminalfall aus Schweden, in dem der Ermittler an seine Grenzen stösst. Die Übersetzung ins Deutsche ist leider nicht durchgehend überzeugend.

Der Prediger von Fjällbacka

Ein Denkmal für den Lehrer

Wir schreiben das Jahr 1700 in Dänemark. Es ist Frühsommer und es gilt einen Todesfall aufzuklären. Dass es sich um einen Mord handelt, ist schon sicher, ein Mörder auch festgesetzt. Doch ist es der Richtige? Der Universitätsprofessor Thomas von Boueberge und sein Sekretär Petter Hortten werden ausgesandt, den Mord zu untersuchen. Dies ist der Handlungsfaden, Erzähler ist der Sekretär. Er ist inzwischen in seinen Siebzigern, selbst Professor und schreibt die Geschichte aus seiner Erinnerung auf. Eingestreut in jedes Kapitel sind Erlebnisse und Gedanken aus der Gegenwart, dem Jahr 1747. Es handelt sich also um einen historischen Roman, der auf zwei Zeitebenen spielt. Der Autor Kurt Aust hat mit seinem Hauptprotagonisten Petter Hortten die Gemeinsamkeit, dass beide nicht in dem Land geboren und aufgewachsen sind, in dem sie leben. Aust ist Däne, 1955 geboren, der nach Aufenthalten in Afrika und Asien jetzt als Publizist und Autor in Norwegen lebt und auch in Norwegisch schreibt. Petter Hortten stammt aus Norwegen, ist der uneheliche Sohn einer Magd und kam im Alter von 19 Jahren nach Kopenhagen. Diese einfache Abstammung nagt des öfteren an seinem Selbstvertrauen und ist Bestandteil der Erlebnisse im Sommer 1700. Die Anlage des Romans - historisches Setting, der erfahrene Lehrer und sein Schüler klären ein Verbrechen auf - ist zwar bei Umberto Eco entlehnt, doch sollte man einen Vergleich unterlassen, denn dies wäre im Grunde ungerecht, denn nur der Rahmen der Geschichte erinnert an Eco. Eco hat eine andere Art, sein immenses enzyklopädisches Wissen in die Romane einzubringen. Aust läßt seinen Professor als Lehrmeister auftreten und sein Sekretär wird von ihm unterrichtet und gefördert, auch Petter kommentiert rückblickend das Geschehen, doch die Hauptbetonung bleibt auf dem Verbrechen und liegt nicht in den philosophischen Erkenntnissen der Menschen. Petters Grund für die Aufzeichnungen sind die immer noch empfundene Liebe und Dankbarkeit gegenüber seinem alten Lehrer, durch den er, der Bauernjunge, einen Status als Universitätsprofessor erreicht hat. Ohne Thomas von Boueberge hätte es nie einen Professor Petter Hortten gegeben und Hortten möchte Thomas mit seiner Schrift ein bleibendes Denkmal setzen, er ist eine Vaterfigur für Petter, der nie einen Vater hatte. Er erledigt dies anhand der Beschreibung der Auflösung der Kriminalhandlung und läßt vielleicht Boueberge selbst etwas zu kurz kommen. Ein weiteres Motiv Horttens für die Niederschrift ist aber auch sein eigenes Erleben. An seinem Lebensende angekommen, denkt er immer wieder über seine Jugendjahre nach und läßt sie Revue passieren. Eingestreut in den Roman sind die politischen Gedanken seiner Zeit: die Gegensätze zwischen Schweden und Dänemark, deren Bürger sich feindlich gegenüber stehen, die Gegensätze zwischen Adel und dem einfachen Stand, der Diskurs wie man als Historiker mit der Aufzeichnung von Geschichte umgeht. Trotz der Länge des Romans von 573 Seiten (obschon die deutsche Fassung in Rücksprache mit dem Autor gekürzt wurde) gelingt es Aust nicht, ein geschichtliches Bild von Skandinavien zu zeichnen, welches den Leser mit dem Nachlektüregefühl "etwas gelernt zu haben", welches doch in historischen Romanen sich öfters einstellt, zurücklässt. Zudem bleiben die Hauptprotagonisten etwas fremd. Dies mag daran liegen, dass sie immer aus der Perspektive des Erinnerns durch Petter geschildert werden. Insbesondere wäre eine breitere Aufbereitung des "Historikerstreits" zwischen Hortten und Hoffmann interessant gewesen, vielleicht in Form einer Darstellung der Entwicklung der Geschichts-wissenschaft. Als Fazit der Lektüre bleibt: viele Stunden mit Interesse an der Handlung geschmökert, doch das große Leseerlebnis wollte sich nicht einstellen. Ob es an den Kürzungen lag?

Die dritte Wahrheit

Eine Mutter hatte vier Töchter

Die 62 jährige Inger Alfvén gehört zu Schwedens Bestsellerautorinnen. Ihr Thema sind Frauenleben. Jedes Kapitel der insgesamt 319 Romanseiten schildert das Geschehen aus einer anderen Sicht, wobei das Wort Geschehen nicht ganz passend ist. Es ist keine konventionelle Handlung mit Anfang, Mitte und Ende aus der Sicht eines Erzählers. Es treten verschiedene Menschen auf, bei den meisten ist Ottilia ein Bindeglied. Ottilia selbst tritt erst ganz spät im Roman in Erscheinung, als der/die LeserIn sie schon längst durch die Wahrnehmung der anderen Protagonisten kennengelernt und sich ein Bild gemacht hat. In psychologisch dichter Atmosphäre schildert Alfvén das innere Erleben dieser Menschen, die in der schwedischen Stadt Huvudstaden leben. Die wichtigsten dabei sind Katarina, Lisa und Herta, die Töchter Ottilias aus ihrer Ehe mit Wilhelm. Die ersten beiden sind erwachsen und leben nicht mehr zu Hause. Herta, die jüngste Tochter, hat keinen nennenswerten Bezug zu ihren älteren Schwestern Lisa und Katarina. Der Vater Wilhelm ist in das Landhaus gezogen und hat sich dort zur Ruhe gesetzt. Hillevi ist ebenfalls eine Tochter Ottilias, sie wurde aber zur Adoption freigegeben und erfuhr erst als sie heiraten wollte, dass sie nicht die ist, die sie zu sein glaubte. Die Erkenntnis erschüttert ihr Leben und sie flüchtet in die Stadt, Ottilia zu suchen. Den weiblichen Hauptprotagonisten gemeinsam ist eine etwas angestrengte Beziehung zur Mutter. Ottilias Mutter Olga lebt in einem Pflegeheim, sie ist meist verwirrt, doch war sie ihr Leben lang psychisch krank. Das Kind Ottilia war schon früh auf sich gestellt und musste sich einen Panzer zulegen. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, genießt Ottilia als Erwachsene den beruflichen Aufstieg ihres Mannes und, nachdem sie sich entschlossen hat selbst berufstätig zu werden, den eigenen Erfolg, insbesondere in materieller Hinsicht. Katarina ist der Mutter am ähnlichsten, sie ist eine erfolgreiche Innenarchitektin. Auch sie ist auf ein geregeltes und sicheres Leben bedacht, symbolisiert auch in ihrem perfekt eingerichteten Haus. Lisa dagegen ist eine erfolglose Malerin, von Geldsorgen geplagt, sie wünscht sich mehr Verständnis und Liebe von der Mutter, die aber dieses Leben überhaupt nicht nachvollziehen kann und auch Lisas Kunst nicht versteht. Herta ist 17 Jahre alt, auf dem Weg sich zu finden, vom Vater fühlte sie sich schon als Kind besser verstanden, er passte sich ihrer Gedankenwelt an, die Mutter blieb die kühle Realistin. Und Hillevi? Es scheint, dass Hillevi auf dem besten Weg ist, in die Fußstapfen ihrer Großmutter Olga zu treten. Es sind zwei Persönlichkeiten, die in ihr agieren und sich streiten. Hillevi tritt in Kontakt zu Ottilia, gibt sich aber nicht als Tochter zu erkennen. Eine Mutter hatte vier Töchter, so heißt der schwedische Originaltitel und gibt damit das Thema dieses Romans vor. Die Mutter Ottilia ist eine Frau, die sich spät ein eigenes Leben aufgebaut hat, in diesem Leben hat Familie im bestverstandenen Sinn wenig Platz und doch macht sie sich insgeheim viele Gedanken um die Töchter, die so verschieden sind. Sie ist ihnen gegenüber nicht indifferent, auch wenn sie ihre Gefühle durch ein strenges und abweisendes Verhalten verstecken will. Sie ist erfolgreich und genießt dies, spürt aber nicht, dass sie hierbei auch Verdrängung betreibt. Von ihrem ersten Kind weiß niemand, und auch sie selbst scheint wenig Gedanken daran zu verschwenden. Dieses Kapitel hat sie so tief in sich verborgen, dass sie selbst kaum damit konfrontiert wird. Sie ist aber nicht wirklich oberflächlich, sie ist eine Frau an der Wegscheide, sie spürt, das Alter kommt und mit den sich ankündigenden Wechseljahren auch unbestimmte Ängste. Der Roman ist als eine psychologische Studie über diese vier Töchter und ihre gemeinsame Mutter angelegt. Doch das Thema, welches die Leser am brennendsten interessiert hätte, wird ausgespart. Hillevi gibt sich der biologischen Mutter nicht zu erkennen und so wissen wir auch nicht, ob und wie Ottilias Leben und das ihrer anderen Töchter sich verändert hätte. Dies ist schade, denn es bleibt das Gefühl, dass dies nur der Beginn war und das Buch wird am Ende mit offenen Fragen zugeschlagen.

Vier Töchter

Ein anderes Amerika

James Lee Burke ist kein Anfänger. Der 1938 geborene Schriftsteller publizierte bereits mit 19 Jahren Jahren einen ersten Text, mit 34 hatte er vier Romane verfasst. Dann kam ein Publikationstief. Nachdem es schließlich zu einer Veröffentlichung kam, wurde ausgerechnet ein jahrelang abgelehnter Roman für den Pulitzerpreis nominiert. Seit den 80er Jahren schreibt Burke Kriminalromane. Der als deutsche Erstveröffentlichung bei Goldmann erschienene Titel "Straße ins Nichts" stammt aus dem Jahre 2000 und heißt im Original "Purple Cane Road". "Straße ins Nichts" ist kein Krimi, der sich schon nach ein paar Seiten als "Pageturner" erweist, also als ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen kann, so gespannt ist man auf den weiteren Verlauf. Es wirkt lange Zeit unstrukturiert, muss der Autor doch Rückgriffe machen, um Motivationen und Situationen zu erklären. Manchmal geschieht dies unvermittelt, so dass man glauben könnte, der Text sei gekürzt, es fehle ein Stück. Nach einiger Lesezeit gibt sich dieses Problem und der Roman wird im Aufbau in konventionellere Bahnen gelenkt, was der Aufmerksamkeit des Lesers dienlich ist. Dave Robicheaux, Polizist in Louisiana, erfährt, dass seine Mutter, die 30 Jahre zuvor die Familie verlassen hatte, nicht nur eine Prostituierte gewesen sein soll, sondern von Polizisten als unerwünschte Zeugin ermordet wurde. Dieses Wissen läßt ihn nicht mehr los, er will nicht glauben, was er erfahren hat. Also versucht er, die Umstände des Lebens und Todes seiner Mutter zu erfahren. Dabei stößt er auf viele Widerstände, die er brechen muss. Was an diesem Buch interessiert, ist die Charakterzeichnung der Protagonisten und die atmosphärische Stimmung Louisianas. Einerseits zeigt Burke die schönen Seiten der Landschaft und die ruhige Atmosphäre des Südens. Auf der anderen Seite aber, beschreibt er auch die unglaublich ärmlichen Verhältnisse, die man in den Südstaaten antreffen kann. "Dann bogen wir auf eine unbefestigte Piste ab, die durch Ackerland, an farblosen Hütten und Brachen im Zuckerrohr vorbeiführte, auf denen allerlei Wellblechschuppen und landwirtschaftliches Gerät standen. Inzwischen war es später Nachmittag, und der Wind hatte zugelegt und fegte durch die Zuckerrohrfelder. Wolken zogen vor der Sonne vorbei, und die Luft roch nach Regen, Salz und den modernden Kadavern toter Tiere in den Abwässergräben." Burke zeigt mittels der Stimmungsbilder und der atmosphärischen Beschreibung ein anderes Amerika. Ihm geht es nicht um das glatte und über Klimaanlagen heruntergekühlte saubere Amerika, wie wir es aus dem Osten der Vereinigten Staaten kennen. Seine Welt ist der ländliche Süden mit seinen subtropischen Klimaverhältnissen, der an den Nerven zerrenden hohen Luftfeuchtigkeit, den materiell armen Menschen, den Sumpflandschaften mit Alligatoren und Schlangen. Wer schon einmal durch die Südstaaten gefahren ist - gemeint ist der tiefe Süden und nicht Florida oder Washington D.C. -, dem ist aufgefallen, dass man es mit einem gespaltenen Land zu tun hat, dass es eine unsichtbare Grenze, ein Nord-Süd-Gefälle gibt, die Folgen des Bürgerkrieges noch immer zu spüren sind. In Burkes Roman haben die Menschen sich angepasst, der Sumpf der Landschaft findet seine Entsprechungen in den Menschen und Korruption ist an der Tagesordnung. Aber Dave Robicheaux ist kein Engel, der angetreten ist, nur Gutes zu tun und den Sumpf trockenzulegen. Er ist trockener Alkoholiker, dem Gewalt nicht fremd ist und der mit sich kämpfen muss, seine Wut und seinen Zorn im Griff zu behalten. In den Text eingestreut sind immer wieder politische Kommentare, so zum Strafvollzug, der Todesstrafe, aber auch der allgemeinen Politik, wie der fehlenden Umweltpolitik der USA. Wer einen anderen amerikanischen Süden kennenlernen will, die Bilder, die "Vom Winde verweht" in unseren Köpfen hervorgerufen hat, aktualisieren will, dem sei die Lektüre dieses Kriminalromans empfohlen.

Strasse ins Nichts

Die Vergangenheit in der Gegenwart

Dass der Engländer Peter Ackroyd in Deutschland vielen ein Unbekannter geblieben ist, läßt sich aus zwei Indizien schließen: einerseits ist mit dem jetzt bei btb erschienenen Band "Das Haus des Magiers" ein Roman in deutscher Erstveröffentlichung erschienen, der im Original schon 1993 auf den Markt kam und anderseits ergab ein Suchlauf bei amazon.de, dass einige der ins Deutsche übertragenen Titel Ackroyds nicht mehr erhältlich sind. Deshalb zunächst einige Worte zum Autor: Peter Ackroyd wurde 1949 geboren und ist der führende Kritiker für Literatur bei der renommierten britischen Times. Seine eigenen zahlreichen Bücher stammen aus den Genres Lyrik, Roman, Biografie und Literaturwissenschaft. Für den Roman "Hawksmoor" erhielt er 1985 mehrere Preise, darunter den "Prix Goncourt". Literarischen Ruhm erntete Ackroyd insbesondere für seine Arbeit als Biograf literarischer Größen wie T. S. Eliot oder Charles Dickens. Auch in seinen Romanen beschäftigt sich Ackroyd gerne mit bekannten historischen Persönlichkeiten. In einem literaturkritischen Werk setzte er sich mit der zeitgenössischen englischen Literatur auseinander und kritisierte darin das konventionelle realistische Erzählen als nicht mehr zeitgemäß. In Konsequenz seiner eigenen Forderung sind in den Romanen Ackroyds die traditionellen Erzählstrukturen aufgehoben, so auch im "Haus des Magiers". Dieser Roman beschäftigt sich mit einer historischen Figur des elisabethanischen Englands, nämlich John Dee, dem Alchemisten und Mathematiker, der von 1527 bis 1608 lebte. Dee, Astrologe der Königin Mary Tudor, wurde als Magier verhaftet, 1555 aber wieder entlassen. Im Roman nun erbt der Historiker Matthew Palmer von seinem Vater ein Haus, von dem Matthew zuvor nicht einmal wusste, dass es im Besitz des Vaters war. Er spürt sofort, mit dem Haus hat es etwas auf sich, es muss eine Geschichte haben und er beginnt dieser nachzuspüren. Bald findet er heraus, es gehörte in früheren Zeiten dem Magier Dr. Dee. Die Zeitebenen und Perspektiven im Roman vermischen sich dann immer mehr. Anfangs wechselt die historische Perspektive des Dr. Dee noch mit der zeitgenössischen des Matthew Palmer, bis beide Protagonisten sich auf einer nicht definierbaren zeitlichen Ebene treffen, denn nichts vergeht wirklich, weil in der Gegenwart auch die Vergangenheit enthalten ist. Doch ist dies nicht nur die Geschichte von Dr. Dee, auch Matthew findet zu seinem Innersten. Versucht man diesen Roman mit Schlagworten zu beschreiben, ist es ein Roman über den Begriff der Zeit, über Menschen mit und ohne Liebesfähigkeit. Es ist aber auch ein Roman über London, nämlich das London des Dr. Dee. Ackroyd ist es gelungen, das Milieu der elisabethanischen Zeit nicht nur im Sprachduktus, sondern auch in der Beschreibung der Straßenszenen wieder auferstehen zu lassen. Besonders gelungen scheint mir aber die elisabethanische Sprachgewalt des John Dee zu sein, die Ackroyd mit einer Leichtigkeit benutzt, als sei sie seine eigene Sprache. Nie erscheint sie gequält oder gekünstelt, sondern wirkt auch im Kontrast zu der modernen Sprache des Matthew Palmer echt.

Das Haus des Magiers

Das Reiben an den Verhältnissen

Die 1960 geborene Polina Daschkowa ist nicht umsonst eine Bestsellerautorin in ihrer russischen Heimat und hat sich nicht umsonst mit ihrem Debütroman "Die leichten Schritte des Wahnsinns" auch das nichtrussische Publikum erobert. Ihr zweiter, jetzt auf Deutsch im Aufbau Verlag vorliegende Roman "Club Kalaschnikow" beweist dies. Es ist ja bekannt, dass es zu den Funktionen eines guten Kriminalromans gehört, etwas über die Gesellschaft zu erzählen, in der er spielt. Und genau dies macht "Club Kalaschnikow". Der Roman ist ein Kurs in neuerer russischer Alltagsgeschichte, der Leser erfährt wie es in der spätkommunistischen und postkommunistischen Zeit Russlands zuging und zugeht. Das fremde Russland erhält ein Gesicht, insbesondere was die neue russische Gesellschaft betrifft. Um was geht es? Der Besitzer des Casinos "Sternenregen" Gleb Kalaschnikow, verheiratet mit der Primaballerina Katja, ist nicht der angenehmste Zeitgenosse. Er trinkt zuviel, legt sich gerne mit den Menschen an, betrügt seine Frau. Nach einer Theaterpremiere Katjas brechen die beiden frühzeitig von der Premierenfeier auf und fahren nach Hause. Noch bevor sie das Haus betreten können, wird Gleb von einem Schuss tödlich getroffen. Da Auftragsmorde in dem Milieu Glebs nicht ungewöhnlich sind, erwägt man zunächst einen solchen. Schließlich verkehrt Gleb nicht nur in den obersten Kreisen, sondern sein Casino wird auch durch einen "Dieb im Gesetz", einen Paten, kontrolliert, der es wiederum gegen einen Konkurrenten zu verteidigen hat. Aber im Verlaufe der Untersuchungen wird schließlich Olga, die letzte Geliebte Glebs, verdächtigt geschossen zu haben und in Untersuchungshaft genommen. Soweit zur erzählten Handlung. Das Buch ist aber durch die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, weit mehr als ein Roman um einen Mord. Daschkowa erzählt nämlich ganz langsam, sie leistet es sich, ihre Charaktere mit einer Biografie auszugestalten, in der Zeit zurückzugreifen, auch Nebenfiguren erhalten eine Vergangenheit auf den insgesamt 445 Seiten. Der Leser ist zur Aufmerksamkeit gezwungen, will er sich nicht in den Zeitsprüngen der Lebensläufe verlieren. Daschkowa möchte, dass man ihre Protagonisten versteht, dass ihre Entwicklung und ihre Beweggründe erkennbar sind, und läßt mit dieser Strategie auch das Russland der Vorwendezeit vor dem Auge des Lesers auferstehen. Sie schildert die Überlebensstrategien im alten Russland, das Scheitern mancher im neuen Russland, aber auch wie es anderen gelingt, in der neuen Zeit zu einem schnellen Erfolg zu kommen. "Geld regiert die Welt", diese nicht neue, fast banale und trotzdem so wahre Weisheit ist auch in der neuen russischen Demokratie angekommen und wer zudem noch über das richtige Netzwerk, sprich Beziehungen, verfügt, macht seinen Weg. Unabhängigkeit gepaart mit Erfolg sind praktisch ausgeschlossen. Die Zwänge, denen die Menschen im alten System ausgesetzt waren, sind lediglich ausgetauscht worden, denn die neuen mafiösen Kontrollsysteme sind den alten Beziehungen nicht unähnlich. Die frühere vorgebliche Einheitsgesellschaft hat sich zu einer zweifachen Klassengesellschaft mit Reichen und Armen entwickelt. Beide Schichten könnten noch weiter aufgesplittet werden und werden von Daschkowa bis hin zum Quasi-Obdachlosen porträtiert. Das Land ist im Kapitalismus angekommen, aber wie auch in den Frühzeiten anderer kapitalistischer Systeme sind die Diskrepanzen unerträglich stark und werden es solange sein, wie der gesellschaftliche Umbau braucht. Die Unterschiede zwischen Reich und Arm lassen an das 19. Jahrhundert Europas und der USA denken, mit den immens Reichen der Gründerzeiten und den bitterarmen Menschen, mit deren Arbeitskraft der Reichtum der anderen geschaffen wurde. Die Schilderungen der Moskauer Wohnverhältnisse sind nur ein Beispiel dafür und erinnern in der Belegungszahl an die Arbeiterbehausungen Berlins oder New Yorks. Wie Christa Wolf bei der Verleihung des Deutschen Bücherpreises für ihr Lebenswerk noch einmal sagte, bedeutet Literatur auch die Reibung an den Verhältnissen. Und genau das kann Polina Daschkowa als Motivation unterstellt werden. Sie reibt sich an den Umbruchzeiten mit den negativen Ausprägungen, verarbeitet diese literarisch und hält ihren Landsleuten den Spiegel vor, zeigt ihnen in welchem Stadium sie sich befinden. Jeder muss für sich entscheiden, welchen Weg er/sie wählt, um in der neuen Gesellschaft anzukommen. Dabei geht es oft um die schlichte Frage, wieviel Moral man sich leisten kann und wann Moral sich zu Unmoral wandelt. Das Theater in dem Katja tanzt, hätte ohne die Sponsorengelder Glebs nicht existieren können, nur durch die Symbiose mit dem Nachtclub war es möglich das Ballett aufrechtzuerhalten, der Truppe Lohn und damit Brot zu geben. "Entweder stimmte Katja zu, den Platz von Gleb einzunehmen, kopfüber in den dunklen, gefährlichen, übelriechenden Sumpf mit dem schönen Namen "Glücksspiel" zu tauchen; dann brauchte sie sich um das Theater und um ihr eigenes materielles Wohlergehen keine Sorgen mehr zu machen. Oder sie rümpfte weiterhin verächtlich die Nase (... ). Die Wohnung und den Wagen würde ihr niemand wegnehmen, aber das Theater wäre ruiniert. (...) Einige würden ein neues Engagement finden, aber viele würden auf der Straße stehen. Schuld wäre nur sie allein." Katja fühlt sich verantwortlich für ihre Kollegen im Theater, sie muss ihre moralischen Bedenken über den Haufen werfen, um den Menschen in ihrer nächsten Umgebung eine Perspektive für das weitere Leben zu geben. Katja kennt aber auch die Risiken, die sie damit eingeht, denn der Mann, der den Club kontrolliert, kommt ihr als zwar als Freund entgegen, doch darf sie sich keinen Illusionen hingeben, denn Lunjok ist ein "Pate", für den Menschen, die sich seiner Kontrolle entziehen, nicht existieren. Katja ist durch den plötzlichen Tod ihres Mannes aufgewacht, sie sieht den Dingen nun realistisch ins Auge, wird aktiv und tut, was sie tun muss. Früher kümmerte sie sich nur um das Ballett, ließ alles andere von sich abprallen, nutzte was sie durch den Tanz gelernt hatte: Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung. Diese Eigenschaften wird sie weiterhin brauchen, doch auf andere Art als bisher einsetzen. Sie ist im Club Kalaschnikow, der Metapher für Beziehungen und Abhängigkeiten angekommen. Doch weil Katja die Unterschiede von Moral und Unmoral bekannt sind, wird sich unter ihrer Führung der Club verändern. Und dies ist wahrscheinlich, ob man es mag oder nicht, die realistische Sichtweise eines gesellschaftlichen Wandels und Neubeginns. Der Umbruch kann nicht von heute auf morgen funktionieren. Sinn macht nur das langsame Hineinwachsen in das Neue, versehen mit einem langen Atem, bis die alten Strukturen ihre Macht verloren haben.

Club Kalaschnikow

Die Kruste des Lebens

Da sitzt man mit den Lesenotizen in der chinesischen Kladde, die chinesische Thermoskanne mit dem Tee neben sich, noch ganz benommen von der Lektüre des auf Deutsch erschienenen "Das Auge von Tibet" von Eliot Pattison vor seinem Laptop, um den Roman zu rezensieren. Fast verschluckt man sich bei dem Gedanken an die chinesischen Produkte mit denen man doch indirekt China unterstützt. Das mag lächerlich sein, zeigt jedoch sehr deutlich die Wirkung die der Amerikaner Pattison mit seinem Roman erzielt. Es ist ihm gelungen, ein Anliegen zu transportieren. Denn dieser Roman ist nur vordergründig ein Krimi, im Grunde genommen handelt es sich um einen politischen Roman, einen Roman über das neue China und den Umgang mit den Minderheiten im Land. Merkwürdig aktuell wird der Text mit einem kürzlich erschienen Zeitungsbericht des Berliner Tagesspiegels, in dem über einen polizeilichen Einsatz und die Willkür der Beamten gegen einen tibetischen Lama in Berlin berichtet wird. Auf der Handlungsebene von "Das Auge von Tibet" spielt, wie schon im ersten Roman des Autors, der ehemalige Ermittler Shan - früherer Regierungsbeamter, dann Häftling im Gulag - die tragende Rolle. Obwohl, genaugenommen, muss der Hauptprotagonist sich seine Rolle mit Tibet teilen. Denn die religiösen Traditionen, die Lamas und ihre Überlieferungen sind auch für den Han-Chinesen Shan zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, er wurde sozusagen "tibetisiert". Shan hält sich in einem tibetischen Kloster auf, offiziell wurde er nie aus dem Lager entlassen und darf sich nur im Bezirk Lhadrung aufhalten, weshalb er keine Papiere besitzt. Als nun die Mönche des Klosters von der Ermordung einer Lehrerin und dem Verschwinden eines Lamas außerhalb Lhadrungs erfahren, erhält Shan die Aufgabe zu ermitteln, was geschehen ist. Er macht sich gemeinsam mit einem Widerstandskämpfer, einem alten Tibeter und dem Mönch Gendun auf den Weg in den Norden. Shan kann nur verdeckt ermitteln, da die Gruppe Lhadrung verlassen muss. Er wird damit zu einem Illegalen. Die Lehrerin Lau, zuständig für eine Gruppe Waisenkinder, soll ertrunken sein, was sich bald als falsch erweist. Spätestens, nachdem Shan von dem gewaltsamen Tod zweier Schüler Laus erfährt, kann er nicht mehr locker lassen, er muss, auch wenn er manchmal nicht weiter weiß, die Wahrheit finden, denn er befürchtet, dass noch mehr Waisenkinder Opfer des oder der Mörder werden könnten: "Etwas hatte die empfindliche Balance gestört, und nun starben Menschen deswegen." Wir dürfen uns von der Öffnung Chinas, von dem chinesischen Kapitalismus sozialistischer Prägung, nicht täuschen und blenden lassen, sagt und warnt uns der Autor mit diesem Roman, denn noch ist China weit davon entfernt eine freie Gesellschaft zu sein. Religionsausübung ist noch immer ein Grund für Verhaftungen (wie jüngst nur Stunden nach der Abreise des amerikanischen Präsidenten), Tibet noch immer nicht in Unabhängigkeit, der Dalai Lama ins Exil gezwungen. Aller Öffnung zum Trotz, führen die Minderheiten ein klägliches Leben um ihre ethnische Identität. Warum nur tun sich Regierungen so schwer mit der Bewahrung der Traditionen durch ihre ethnischen Mitbürger? Da ist China ja kein Einzelfall, müssen sich auch westliche Kulturen an die eigene Nase fassen, doch die programmatische und gewalttätige Unterdrückung und Ausrottung, die gilt für die Volksrepublik China unter dem Mantel nur dem Volk zu dienen. Shans Erkenntnis jedenfalls ist, "daß eine Arbeit im Dienst der Regierung nicht immer dasselbe ist wie eine Arbeit im Dienst des Volkes". Dem Roman gelingt es, die vielen existierenden Welten, ob mythologisch oder politisch, zu vermitteln: "In gewisser Weise glich die gesamte Volksrepublik China einem bunt zusammengewürfelten Stück Stoff, einem Flickwerk aus ineinander verwobenen Menschen, Kulturen und Historien, die durch Zwang und Doktrin notgedrungen ein Ganzes bildeten, wußte Shan." Der Roman ist keine Anklage an ein sozialistisches System an sich, ist nicht geprägt von einer Kommunistenphobie. Pattison erkennt sehr wohl, dass auch der Kapitalismus US-amerikanischer Prägung sich von den Menschen selbst entfernt hat, die Menschen über ihren Besitz definiert. "Niemand ist verantwortlich. Die Leute lehnen sich einfach zurück und lassen das Übel geschehen. Wälder werden abgeholzt. Kulturen werden zerstört, Traditionen verworfen, weil sie nicht Internetkompatibel sind. Kinder wachsen in dem Glauben auf, das Fernsehen sei überlebensnotwendig. All ihre Wertbegriffe entstammen der Werbung." Das amerikanische Paar, welches sich aus dieser Erkenntnis heraus der Verantwortung stellt, muss bitter mit dem Tod des Sohnes dafür büßen. Wären sie in den Staaten geblieben, hätten sich der Masse angeschlossen, wäre ihr Sohn um wundervolle Erfahrungen im Leben mit den Nomaden ärmer, doch am Leben. Nach tibetischer Sicht ist dies aber unwichtig, denn Wahrhaftigkeit stellt ein weit höheres Ziel als Lebensalter dar. Überhaupt können Pattisons Schilderungen tibetischer Traditionen ein wunderbarer Ansatz zur Beschäftigung mit diesen sein, wie z.B. die Übung "Kruste des Lebens": um zur wirklichen Oberfläche der Steine vorzudringen, ihre Schönheit unter der Schmutzkruste zu erkennen, werden sie mit Wasser abgewaschen. Eliot Pattison hat eine Ausbildung zum Rechtsanwalt und verdiente sein Geld als Berater für die Wirtschaft. Daneben publizierte er im journalistischen Bereich und schrieb bzw war Herausgeber von Büchern, die sich mit wirtschaftlichen und juristischen Themen beschäftigten. Er hielt sich wiederholt als Reisender in China auf. Pattison hat nicht nur vor Ort Eindrücke gesammelt, sondern sich auch mit dem Tibet vor der Besetzung durch China beschäftigt. Man spürt, der Autor hat seine Aufgabe ernst genommen und deshalb glaubt man ihm auch das Anliegen des Romans. Es muss darauf hingewiesen werden, dass man mit dem "Auge von Tibet" ein dickes Buch vor sich hat, es sind ohne die Worterläuterungen und die Schlussbemerkung des Verfassers 691 Seiten zu bewältigen. Aber es sind 691 traditionell erzählte Seiten, die sich lohnen, auf denen man angeregt wird, auch über den eigenen Tellerrand zu blicken, sich eines wirklich magischen Landes zu erinnern, eines Landes, dessen Menschen Glück und Zufriedenheit ausstrahlen, trotz all des Leids, welches sie und ihr Land erfahren haben. Wenn Pattison die Gesichter der tibetischen Mönche beschreibt, strömt deren Ruhe und Ausgeglichenheit förmlich aus den Seiten heraus und man sieht die fröhlichen Gesichter vor sich. Der Klappentext übertreibt in keinster Weise, wenn es da heißt, Eliot Pattison habe die Seele Tibets eingefangen, denn es gelingt ihm, tibetische Mythologie und Lebenseinstellung darzustellen. In der Schlussbemerkung erfährt der Leser, nicht nur Figuren, sondern auch viele Schauplätze der Erzählung sind fiktiv und bekommt weiterführende Literaturhinweise.

Das Auge von Tibet

Sprechende Tote

Die Autorin wird einigen bekannt sein, denn "Der Flusskönig" ist immerhin der vierzehnte Roman der 1952 geborenen Amerikanerin. Es ist kein lautes Buch, keines das nach einer Fortsetzung oder Verfilmung ruft! Der Roman lebt von seinen Bildern, er ist überaus stimmungsvoll und poetisch erzählt. Es ist ein leises Buch, welches keinerlei großer Aktionen bedarf um die Atmosphäre des kleinen fiktionalen Ortes Haddan am gleichnamigen Fluss in Massachussetts zu beschreiben. In diesem Haddan gibt es eine Internatsschule von Tradition und nun wäre es einfach zu sagen, "Der Flusskönig" steht in der Folge von Donna Tartts "Die Geheime Geschichte". Es erinnert lediglich an Tartt, und ist doch ein ganz anderes Buch. Es gibt nicht ein Thema des Buches, es sind viele zwischenmenschliche Inhalte, die angerissen und angesprochen werden: Freundschaft/Familie, es geht um Tote und Überlebende, um Schuld und Reue, aber auch Schuld und Sühne, Ignoranz/Arroganz, Mut und Feigheit, Hass und Liebe und - nicht zu vergessen, - die Trauer, die das ganze Buch wie ein roter Faden durchzieht: die Trauer der Toten und die Trauer der Überlebenden. Die Haddan School besteht seit mehr als hundert Jahren und doch ist sie ein Fremdkörper für die Einheimischen geblieben. Einwohner und Lehrpersonal haben nichts miteinander zu schaffen. Die letzte Gelegenheit, dies zu ändern, ging mit der unglücklichen Ehe zwischen der Dorfschönheit Annie Jordan und dem Schuldirektor Dr. Howe gründlich daneben und endete mit Annies Selbstmord. Schulangehörige und Einheimische leben nebeneinander her, es gibt keine offenen Feindseligkeiten, aber auch keine Freundschaften. Daran würde normalerweise auch der Tod eines Schülers, Augustus Pierce, nichts geändert haben, wäre da nicht der Polizist Abel Grey, der spürt, hinter Gus' Tod steckt mehr als ein Unfall. Und Abel läßt sich von nichts und niemandem abhalten, eine Erklärung zu finden, denn "(...) Abe wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Toten sprachen und den Lebenden die Schuld zuwiesen an allem, was sie getan oder unterlassen hatten." Er läßt sich auch nicht ablenken, als er ganz überraschend feststellt, dass er, obwohl er sich für immun gehalten hatte, die Liebe zu einer Frau gefunden hat. Im Verlauf des Romans muss Abel erkennen, dass ihm die vertraute Welt fremd wird, das was er zu kennen glaubte, entpuppt sich als etwas anderes. Die Menschen und die Umgebungen verändern sich, verlieren den gewohnten Anblick. Oftmals sind es die kleinen Dinge, die das Buch so liebenswert machen, wie die Erwähnung der Mäuse und ihrem Treiben, wie überhaupt die Natur mit Tieren und Pflanzen eine eigene Rolle im Personal des Romans haben dürfen: "Im Oktober, wenn die Ulmen ihre Blätter abwarfen und die Eichen von einem Tag auf den anderen gelb wurden, kamen die Mäuse aus dem hohen Gras am Flussufer und machten sich auf die Suche nach einem Unterschlupf. Die Mädchen in St. Anne's fanden sie oft in den Schubladen ihrer Kommode oder eingekringelt in ihren Schuhen neben dem Bett." An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass es der Autorin nicht um Tempo geht, sie ist mehr daran interessiert, zu beobachten und daran zu erinnern, was zu Beginn des Herbstes geschieht. Ein weiteres Beispiel zeigt eine sensible Autorin, der es gelingt mit kleinen Sätzen große Wirkung zu erzielen: "So ist das Leid: Es verfolgt den, der vor ihm flieht, und hinterlässt eine endlose Spur der Trauer." Wer Alice Hoffman als Autorin noch nicht kennt, dem sei dieses 352 Seiten starke Buch empfohlen, wer sie kennt, wird es ohnehin lesen.

Der Flusskönig