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Wolfgang Kraushaar: 1968

1968 im Zeitraffer

50. Ein halbes Jahrhundert. Für die 68er war 1918 das 50er-Jubiläum, schreibt Kraushaar, der sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit bisher mit Protest und Widerstand in der BRD und DDR befasste. Wer dabei war, könne nicht objektiv berichten, so der Vorwurf an Zeitzeugen, aber der Autor ist sowohl Zeuge als auch Historiker, eine Doppelrolle, die er damit meistert, dass er auch den Bezug zur Gegenwart herstellt und damit auch die Folgen von 1968 dokumentiert. Denn das Rubrum 1968 ist mehr als die Summe seiner Einzelteile und auch der neuerdings an diese Generation erklärte Krieg durch Parteien wie Pegida oder AfD wird von Kraushaar in sein Narrativ von 1968 miteingebunden. Befinden wir uns ein halbes Jahrhundert nach `68 tatsächlich im gesellschaftlichen Rollback? Einer "konservativen Revolution"?

Familie und Revolution

Der zentrale Wert in jeder gesellschaftlichen Organisationsform ist wohl die Familie und genau die Umorganisierung des Privatlebens war im Fokus der 68er, denn das Private ist das Politischste schlechthin. Familie wurde plötzlich als "repressiv-neurotischer Zwangsverband" interpretiert, die genau das hervorbrachte, was Theodor W. Adorno als den "autoritären Charakter" bezeichnete, der den Faschismus erst ermöglicht hatte. Die fehlende Möglichkeit, sich ein autonomes Ich auszubilden und die strukturell verankerte Ich-Schwäche der postfaschistischen Gesellschaft, seien das Resultat einer rigiden, unterwürfigen und anal orientierten Erziehung gewesen. Der verdrängte Hass gegen die Eltern würde projektiv gegen Minderheiten und Fremdgruppen gelenkt und die durch Elternautorität durchgesetzten Peinigungsrituale in Aggressionsformen gegen Schwache umgewandelt", so Kraushaar. Bei aller berechtigten Kritik führten aber auch viele gesellschaftspolitischen Experimente zu Führerkult und Gruppen-Gurus, gerade auch auf der Linken. Die Kommune 1 ist da nur ein Beispiel von vielen.

Der Soundtrack zur Revolte

Kraushaar unterscheidet in seiner Erzählung zwischen Gradualisten und Maximalisten, Reformern und Revoluzzern. Sowohl die Köpfe der internationalen Bewegung werden porträtiert als auch Idole, Mentoren und Kritiker der Bewegung sowie eine Landkarte der weltweiten Verbreitung des Aufstands. Auch der "Sound der Revolte", so der Titel eines Kapitels, wird entsprechend enthusiastisch erwähnt, wenn auch viele der Protagonisten davon gar keine Ahnung hatten und etwa der SDS-Sprecher Hans-Jürgen Krahl lieber "Mama" von Heintje hörte als "Street Fighting Man" von den Stones. Es wird aber auch von Niederlagen gesprochen, etwa dem Massaker in Mexico City, das dort während der XIX. Olympischen Spiele stattfand, und bei dem wahllos in eine friedlich demonstrierende Menge geschossen worden sei. Müsste man eine Bilanz ziehen, könne man die Achtungserfolge in sozialer, pädagogischer und kultureller Hinsicht nicht übersehen. Auch von einem Demokratisierungsschub und einer breitenwirksamen Politisierung des Alltagslebens müsste dann die Rede sein sowie natürlich dem Aufbruch der Frauenbewegung. Eine gute Einführung ins Thema von einem, der dabei war und dennoch zu objektivieren weiß.


von Juergen Weber - 27. Mai 2018
1968
Wolfgang Kraushaar
1968

100 Seiten
Reclam 2018
100 Seiten, broschiert
EAN 978-3150204528