Chiffre 1968
Das Jahr 1968 und der heiße Mai `68 - das ist inzwischen ein halbes Jahrhundert her. Das Jahr steht einerseits für einen Neubeginn und andererseits für einen Schlussstrich, wie Detlef Siegfried schreibt. Polarisierend wurde die Generation 1968 auch als "Hitlers Kinder" bezeichnet, da Teile von ihr in ihrer radikalen Gewaltapologie dem, gegen das sie kämpften, allzu sehr ähnelten. Denn eine ganze Gesellschaft mit Gewalt zu ändern - das sollte auch ihnen nicht gelingen.
Raus aus dem "motorisierten Biedermeier"
1968 ist für den Autor "keine klar definierbare Kategorie, sondern eher eine Unschärfeformel zur Vereinheitlichung eines schwer fassbaren Ganzen". Zeittypisch sei aber in jedem Fall eine "Verschmelzung von Kultur und Politik" gewesen, wie er schreibt. Postmaterialistische Werte rückten immer mehr in den Forderung, da die Grundversorgung ja grundsätzlich gesichert schien. Da auch Bildung besser zugänglich wurde, setzte schon Anfang der Sechziger Jahre ein Wertewandel ein. Der Deutung von 1968 eines Generationenkonflikts erteilt Siegfried allerdings eine Abfuhr, das sei eher eine Konstruktion der Medien, um mit Konfrontationsgeschichten die Auflagen zu steigern. Die Kontinuität der 45er-Generation (Liberale wie Grass, Habermas und Johnson) und der 68er unterscheidet er allerdings durch Ideologieanfälligkeit, denn davor seien die 45er gefeit gewesen. Die eigentliche Revolte fand ohnehin in den Wohnzimmern statt: das "motorisierte Biedermeier" (Erich Kästner), Fernsehen und Häuslichkeit wurde durch das Ausprobieren neuer gesellschaftlicher Organisationsformen (Provos Amsterdam) wohl mehr herausgefordert als durch das Skandieren von Parolen auf der Straße. Normativität wich der individuellen Entscheidung, etwas Neues auszuprobieren, darin liege nicht nur für die Provos die eigentliche Legitimität der Revolte. Letztendlich musste man sich ja selbst ändern, um damit auch die Welt zu ändern.
Das Leben ändern
Was gelang, war eine kulturelle Revolution: Männer ließen sich die Haare lang wachsen, Frauen warfen die Pille ein und waren promiskuitiv, Drogen wurden konsumiert, Musikfestivals, Kommunen und neue Zeitschriften stellten das vorhandene Weltbild der Spießbürger und Ewiggestrigen auf den Kopf. Rudi Dutschke, Che Guevara, Jimi Hendrix und Mao Zedong waren plötzlich in aller Munde und gekämpft wurde vor allem gegen den Klassenfeind, personifiziert in Würdenträgern aus der NS-Zeit, die mehr als 20 Jahre nach dem Krieg immer noch in Amt und Würden waren. Detlef Siegfried zeigt, welche gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Ereignisse schon vor 1968 passierten und die Revolte sozusagen vorbereiteten. Der Autor gibt aber auch einen guten Einblick in die sog. Gegenkultur in Großstädten wie Berlin oder Frankfurt am Main sowie andere Schauplätze in der bundesrepublikanischen Provinz. Im Fokus seiner Erzählung des zum Chiffre gewordenen Jahres stehen aber auch die Fragen danach, wie viel von der revolutionären Dynamik sich in die "rot-grünen" Siebzigerjahre hinüberretten ließ. Und auch die Frage, was eigentlich aus all den Linken von damals geworden ist.
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