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Christian Tepe: Wege zum nachhaltigen Denken

Nachhaltig denken? – Über die Ehrfurcht vor dem Leben

Der liberale Ökonom und Philosoph Friedrich August von Hayek sprach von "Wieselwörtern". Begriffe nehmen in wechselnden Kontexten die Farben ihrer Umgebung an. Zu den zeitgenössischen Modewörtern in der Politik gehört die so oft beschworene "Nachhaltigkeit", besonders in der Ökologie. Man müsse nachhaltig denken, wirtschaften und gestalten. Der Begriff Nachhaltigkeit erwirkt ein respektvolles Schweigen und zugleich Ratlosigkeit. Das sind sichere Indikatoren für Leerformeln. Der Philosoph Christian Tepe analysiert und seziert den Begriff der Nachhaltigkeit – und plädiert für eine natur- und lebensfreundliche Neuorientierung.

Tepe beginnt mit einem Gedankenexperiment. Ein ökologisch und naturethisch gebildeter Gast möchte sich mit dem Status des Umweltschutzes in Deutschland befassen. Den Begriff der "Nachhaltigkeit" hat der Besucher noch nie gehört. Von Nachhaltigkeit sprechen Stromkonzerne wie Fluggesellschaften. So würden "ökologische Verwüstungen" jeglicher Art mit nachhaltigem Handeln begründet und gerechtfertigt. Eine "Nachhaltigkeitsoffensive" werde diskutiert. Der Begriff gewinne "sämtliche Konturen". Eine Überzeugung bildet sich: "Nachhaltigkeit ist ein Synonym für umweltethische Verantwortungslosigkeit!" Der Begriff, so Tepe, sei "nachhaltig instrumentalisiert" und inhaltlich ausgehöhlt worden, zugleich sei dieser eine "Chiffre für ökologische Verantwortungslosigkeit" und das bestimmende "Kennwort für soziale Ungerechtigkeit". Der Begriff solle das "ökonomische Ziel der Profitmaximierung ethisch nobilitieren": "Was das Siegel der Nachhaltigkeit trägt, ist jedem Zweifel und jeder Kritik enthoben."

Christian Tepe fordert eine Besinnung auf die naturethischen Theorien von Albert Schweitzer und Hans Jonas. Heute werde der Begriff der Nachhaltigkeit philosophisch entkernt und "beliebig zurechtgebogen". Der Konsumrausch halte an. Geklagt werde mancherorts über die "Bevölkerungsexplosion". Tepe erinnert dies an einen "Aufruf zum kollektiven Suizid": "Wer aus umweltethisch noch so hehren Motiven für die Verringerung der Erdbevölkerung plädiert, setzt sich damit von vornherein ins Unrecht und zwar aus dem einfachen Grund, weil er selbst lebt."

Tepe nimmt die "Nachhaltigkeits- und Umweltschutzinitiativen" in den Blick, bis hin zu "Fridays for Future". Alle Gruppen seien "von dem Bewusstsein durchdrungen, dass wir in diesem Jahr, heute noch, einfach jetzt sofort umkehren und handeln müssen": "Vor diesem Hintergrund erscheinen die UN-Klimakonferenzen wie eine immerwährende Verschiebung des Anfangens. Der Verdacht drängt sich auf, dass Umweltpolitik unter dem Label nachhaltiger Entwicklung den Versuch darstellt, die Spontanität und den Tatendrang der zum Handeln entschlossenen Menschen zu unterlaufen: Nachhaltigkeit als Verzögerungstaktik. … Ankündigungen ersetzen Handlungen, alles soll grundlegend anders und besser werden, nur bitte nicht sofort." Die ökonomischen Hintergründe, etwa bei "Fridays for Future", mancher dieser Bewegungen erörtert er indessen nicht. 

Die "Öffnung der Naturethik" für den "moralischen Eigenwert des nicht-menschlichen Lebens" werde nicht weiterverfolgt, Albert Schweitzers Gedanke der "Ehrfurcht vor dem Leben" scheint vollkommen in Vergessenheit geraten zu sein. Stattdessen präsentiere sich die "nachhaltige Entwicklung als eine Wachstumsideologie in neuem Gewande": "Mit der ökonomischen Dimension werden in Wirklichkeit vor allem Profitinteressen der ökonomischen Akteure restituiert und nebenbei auch noch zum konstitutiven Element nachhaltiger Entwicklung ethisch geadelt." Die "Zerstörung der äußeren Natur" korreliere mit einer "Korrumpierung der menschlichen Natur" durch die Gesellschaft: "Der unerbittliche Zwang zum Funktionieren im Arbeitsleben tut sein Übriges."

Christian Tepe plädiert – unter Bezugnahme auf den hochbetagten, auf einen Rollstuhl angewiesenen Helmut Schmidt, der sich im Schritttempo in das Künstlerdorf Fischerhude chauffieren ließ – für die "angemessene Bewegungsart des Fußgängers". Wer der Geschwindigkeit huldige, mache die Natur zur Ware und verstärke die "gefährliche Illusion von ihrer allgegenwärtigen Verfügbarkeit". Zudem könne die "Plötzlichkeit der permanenten Ortswechsel" nur in "Erschöpfung und Substanzlosigkeit" enden: "Durch den Rhythmus des Gehens vermag der Mensch eins zu werden mit der Landschaft. Er wird zum Teil einer Naturkomposition aus Wiese und Feld, aus Luft, Licht, Himmel und Erde; er ist darin kein Fremdkörper mehr, selbst wenn seine Gedanken vielleicht woandershin schweifen. Am Anfang aller authentischen Nachhaltigkeit steht das Fußgängertum als Lebensart, als Öffnung der Wahrnehmung für alles, was uns umfängt."

Zugleich bekennt sich Christian Tepe eindeutig und unmissverständlich zum Lebensschutz: "Menschliches Leben stellt an sich selbst ein Gut dar und ist in allen seinen Phasen schützenswert." Er argumentiert wider die Instrumentalisierung des Menschen und appelliert: "Beugen wir uns der Vorherrschaft des Geldes, die sogar aus Heimen und Krankenhäusern Orte der Profitmaximierung gemacht hat, oder solidarisieren wir uns mit denen, die zum Mittel der Gewinnproduktion erniedrigt wurden? In unserem Alltag, mit jeder einzelnen menschlichen Begegnung, mit der wir dem Dasein eine bestimmte Farbnuance verleihen, entscheidet sich, wie es um die Ethik am Lebensanfang und am Lebensende steht."

Christian Tepe hat ein leidenschaftliches Buch verfasst, mit dem er – wie Albert Schweitzer – für die Ehrfurcht vor dem Leben wirbt, streitet und kämpft. Diesem Essay sind viele einsichtige, nachdenkliche Leser zu wünschen.


von Thorsten Paprotny - 11. November 2021
Wege zum nachhaltigen Denken
Christian Tepe
Wege zum nachhaltigen Denken

Ein philosophisches Traktat über Naturschutz, Ethik und Umweltpolitik
Tectum 2019
83 Seiten, broschiert
EAN 978-3828844148