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Edgar Allan Poe: Unheimliche Geschichten

Poe: Pionier der literarischen Moderne

"Was soll’n das jetzt, Massa?", fragte Jup, den die Beschämung offenbar zum Einlenken bewegte, "immer woll’n Sie Krach mit Ihrem alten Nigger. Hab doch nur Spaß gemacht, Ich und Angst vor dem Käfer. Der Käfer ist mir egal." In der Geschichte "Der Gold-Skarabäus" hat der Erzähler einen Freund namens Legrand, ein Einsiedler, der einen Sklaven hat, der auf den Namen Jupiter hört und ihn "Massa Will" nennt, obwohl die Eltern Legrands ihn längst "befreit" hatten und er eigentlich kein Sklave mehr ist, bleibt "Jup" bei "Massa Will" und hilft ihm bei seiner Schatzsuche. Denn tatsächlich ist "Der Gold-Skarabäus" eine klassische Abenteuergeschichte, die von der Suche nach einem alten Piratenschatz handelt. Dabei lernt der Leser nicht nur von erstaunlichen Koinzidenzen, sondern auch wie man Geheimtinte mischt und diese auf einem beständigen Pergament wieder sichtbar machen kann. Außerdem enthält die Geschichte eine Lektion in Logik, denn diese ist notwendig, um eine Geheimschrift zu entziffern. Am Ende siegt aber doch der König Zufall, denn wäre es nicht der kälteste Tag des Jahres gewesen, hätte Legrand nicht einheizen müssen und die Geheimtinte wäre nie zum Vorschein gekommen. Bestimmung? Schicksal? Oder einfach nur der alte König Zufall, der Wahlheilige aller Abenteurer, Gauner und Halunken.

Das Schöne und das Gute

Eigentlich ist der 1809 geborene und schon 1849 verstorbene Edgar Allen Poe aber vor allem durch mystische Geschichten bekannt geworden. Eine der berühmtesten ist sicher die über den Doppelmord in der Rue Morgue, die ebenfalls in vorliegender Kurzgeschichtensammlung Poes enthalten ist. Die Auswahl und Zusammenstellung sei nach folgenden Kriterien getroffen worden, schreibt Herausgeber Andreas Nohl: Detektivgeschichten, imaginäre Ballonfahrten, phantastische Seeabenteuer, mesmerische Experimente, psychedelische Beschwörungen einer toten Geliebten ("Morella", "Ligeia") und schließlich "Metzengerstein", eine Geschichte ganz eigener Kategorie, die etwas an Oscar Wildes Dorian Gray erinnert. Detektivgeschichten werden übrigens mit ihrer Verknüpfung von Rätsel und Analyse gerne auch als legitimes Kind der Aufklärung bezeichnet, schreibt der Herausgeber, was wohl besonders bei Poe zutreffend ist. "Das Schöne hat nichts mit dem moralisch Guten zu tun, es hat seine Moralität allein in der ästhetischen Evidenz." Treffender könnte man Edgar Allen Poes wohl kaum beschreiben.

Beginn der literarischen Moderne mit Poe

Charles Baudelaire hatte schon damals Poes Werke in fünf Bänden übersetzt und kommentiert und mit ebendieser Poe-Ausgabe von Charles Baudelaire beginnt auch die literarische Moderne. Der vorliegende erste Band enthält folgende weitere Geschichten: "Ein Sturz in den Malstrøm", "Ende einer Ballonfahrt", "Das beispiellose Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall", "Manuskript in Flasche gefunden", "Die Fakten im Fall von M. Valdemar", "Mesmerische Offenbarung", "Eine Geschichte aus den Ragged Mountains", sowie Texte von Charles Baudelaire über Edgar Allan Poe und seine Erzählungen. Diese bibliophile Ausstattung hat einen transparenten Schutzumschlag (eventuell bei Erhitzung mit Schatzkarte), farbige Zwischenblätter und ein blutrotes Lesebändchen.


von Juergen Weber - 19. April 2017
Unheimliche Geschichten
Edgar Allan Poe
Charles Baudelaire (Hrsg.)
Andreas Nohl (Übersetzung)
Unheimliche Geschichten

dtv 2017
Originalsprache: Französisch
424 Seiten, Hardcover
EAN 978-3423281188
Schutzumschlag, Lesebändchen