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Fritz J. Raddatz: Tagebücher 2002 - 2012

Heilsame Lektüre

Fritz J. Raddatz, geboren 1931 in Berlin, war unter anderem stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags und Feuilletonchef der ZEIT; für mich ist er vor allem ein höchst begabter Causeur, geschwätzig, eitel, klug, oft schamlos, und anregend. All das (und viel mehr) weiss er natürlich viel besser als ich. Seine Tagebücher 2002-2012 sind ein Genuss, ich habe sie mit Gewinn gelesen. Weil ich mich bestens unterhalten fühlte, und sie als enorm lehrreich empfand.

Immer wieder nahm ich den Griffel zur Hand, strich ich mir Stellen an:

"... dass er ein zwar sprachgeschickter Schreiber ist, aber zugleich einer OHNE THEMA (was von Homer über Dante und Tolstoi zu Thomas Mann eben Ausweis ganz grosser Begabung ist: sein eigenes Thema zu finden)."

"Die Albernheit von Journalisten. Sie glauben vor allem sich selber: Was in der Zeitung steht ist die Wahrheit. Obwohl sie doch wissen müssten, dass eben das genau nicht stimmt."

"Fast täglich kommen sogen. "Angebote" mit dem Zusatz "Aber wir haben kein Geld", und meine ständige Antwort "Kein Geld habe ich selber" wird allmählich auch ein müder Witz. Ich möge für Zadeks Wiener Tennessee-Williams-Premiere etwas im Programmheft schreiben: 300 Euro. Das wagt der Mann vorzuschlagen, der unter DM 150 000 keine Regie macht. Wir haben leider kein Geld ...".

"Gerd sagt mit gewissem Recht 'Sei doch froh, dass du gesund bist, alles weitere findet sich ...' - doch was ist das Weitere, und ist denn Gesundheit ein Wert per se? ... Gesundsein als Beruf? Kommt mir vor wie Reichsein als Beruf - wer reich ist, sollte doch etwas tun mit dem Geld, nicht nur es zählen und geniessen."

Mit niemanden, "und sei er so alt wie der 82jährige Wapnewski", könne er über den Tod sprechen. "'Aber Sie sind doch noch derart fit, geistig jung, was machen SIE sich darüber Gedanken' - als machte man sich die besser erst, wenn man eben des Gedankens nicht mehr mächtig ist."

Raddatz, ein rastloser Mann, macht unter anderem eine eigentliche "Kultur des Nicht-Antwortens" aus: Man erhält Einladungen, Aufforderungen, Terminvorschläge und hört dann auf Nachfrage gar nichts mehr. Selbst ein Nobelpreisträger wie Grass ist davon betroffen.

Ich empfand die Lektüre dieser Tagebücher als radikal aufklärend. Raddatz ist wie wir alle auch - ichbezogen, neidisch, loyal etc - nur eben mehr so. Indem er festhält, was ist und dabei auch immer wieder Giftpfeile in alle Richtungen schiesst, entlarvt er schonungslos die Realität derer, die wir aus den Medien kennen. Der heimliche Neid auf diese Leute war nach der Lektüre völlig weg, übrig blieb da nur "Alles ist eitel". Eine heilsame Lektüre!

"Unangenehm-belehrendes, selbstgefälliges Telefonat mit Kempowski, der mir vor allem zu berichten wusste, dass er kürzlich eine rügende Bemerkung über mich in sein Tagebuch eingetragen habe: Ich sei wohl bei unserem letzten Treffen (lange her!) sehr mit mir selber beschäftigt gewesen, und so habe er notiert: 'Nicht so bald wieder' oder so ähnlich. Wird sich wohl auf mein Gemuffel beziehen, mit der er mir - er war der Gastgeber - 'Sie können gerne ein Glas Wein bestellen' anbot. Lustigerweise hatte gerade dieser Tage der skurrile Oberkellner des Vierjahreszeiten zu mir bemerkt 'Der Herr Kempowski ist wohl eher sparsam?' (Womit gesagt sein sollte, er gibt kein Trinkgeld.)"

Mich erinnerten diese Aufzeichnungen auch an die Texte von Dominick Dunne, der, wie Raddatz, selbst Mitglied der High Society war, über die er so engagiert und schonungslos berichtete, wobei man sich fragen kann, was denn eigentlich "high" sein soll an dieser Ansammlung von Missgunst, Geiz und Grössenwahn.

Zu Recht fragt sich Raddatz: "Wie man allerdings Memoiren schreiben soll und zugleich everybody's darling bleiben will - DAS hat mir noch keiner verraten können."

Die beste Comédie Humaine, die ich seit langem gelesen habe! Ein moderner Jahrmarkt der Eitelkeiten, bevölkert zumeist von Kindsköpfen, würdelosen Ego-Trippern. Berührend und lustig, ungeniert, entblössend, angriffig, doch nicht hämisch, und immer sehr menschlich.

Etwas larmoyant hält er fest: "Es ist ein (zugegeben:) behagliches Leben geworden mit Hammelkeule oder Entenbraten und Bordeaux, NOCH sogar bezahlten resp. bezahlbaren Rechnungen, aber DAS, was ich immer unter LEBEN verstand nämlich produzieren, der Welt etwas hinzuzufügen (nicht zufügen), das scheint vorbei." Ganz und gar nicht, solange der Mann solche Tagebücher schreibt.

PS: "Interessant, wie fehlerhaft-ungenau fast JEDE Kritik ist, derweil ich doch ständiger Fehler geziehen werde", schreibt Raddatz einmal und berichtet dann von einem Empfang bei der Ringier-Zeitschrift 'Cicero', bei dem er auch den Journalisten und Ringier-Berater Frank A. Meyer trifft und ihn als belesenen und höchst temperamentvollen "Geschäftsführer" schildert. Der Sonntagsblick-Kolumnist Meyer kommt übrigens noch einmal vor, als "ein Herr Frank Meyer", der Herrn Raddatz, im Namen des "Regnier-Verlages" (!) an die Uni St. Gallen eingeladen hatte, um dort "einen Vortrag über die Verkommenheit des Kulturbetriebes" zu halten.


von Hans Durrer - 24. April 2014
Tagebücher 2002 - 2012
Fritz J. Raddatz
Tagebücher 2002 - 2012

Rowohlt 2014
720 Seiten, gebunden