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Soziale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen

Soziale Kompetenz ist kein Zufallsprodukt

Dieser wissenschaftliche Sammelband behandelt ein Thema, das mit zuverlässiger Regelmässigkeit zu öffentlichen Diskussionen führt. Auslöser ist meist ein bestimmter Vorfall, der aufschreckt und uns wieder einmal vor Augen führt, dass Jugendliche oder sogar Kinder zu schlimmen, ja grausamen Taten fähig sind. Auch wenn eine Zunahme rein statistisch nicht unbedingt nachgewiesen werden kann, hat zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung die Anzahl schwerer Gewaltdelikte von und unter Jugendlichen stark zugenommen. Es sind Taten, wie brutale Vergewaltigungen unter Minderjährigen oder das sinnlose Zufügen schwerster Verletzungen, indem ein am Boden liegender, bereits wehrloser "Gegner" mit Fusstritten so lange malträtiert wird, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, die unweigerlich die Frage aufwerfen, ob unsere heutige Jugend denn immer degenerier und asozialer wird. Ein Mangel an sozialer Kompetenz muss aber nicht zwangsläufig in Gewalt gegen andere münden, sondern kann sich auch subtiler in Form von psychischen Störungen zeigen, die nicht unbedingt von aussen sofort erkennbar sind.

Je nach Konstellation und Schwere einer Tat fokussiert die öffentliche Debatte schnell in eine bestimmte Richtung und wird so der Komplexität des Themas oftmals nicht gerecht. Meist geht es um Streitfragen wie diese: Müssen gewalttätige Computerspiele verboten werden? Wie kann der Zugang zu Pornografie und Gewaltszenen übers Handy und Internet kontrolliert respektive eingeschränkt werden? Sind es vor allem Jugendliche mit ausländischen Wurzeln, die diese Taten zu verantworten haben, und wenn ja, müsste nicht gleich die ganze Familie des renitenten jugendlichen Ausländers des Landes verwiesen werden? Wie können die Eltern besser zur Verantwortung gezogen werden? Sind unsere Gesetze zu schwach oder werden sie in der Praxis zu lasch angewendet? Kann man gar von einer "Kuscheljustiz" sprechen? Diese und ähnliche Fragen, drehen sich fast ausschliesslich um die Reaktion auf solche Taten. Über gezielte Prävention, abgesehen von der Abschreckung durch härtere Bestrafung, wird selten öffentlich diskutiert.

Der vorliegende Sammelband ist hier weit differenzierter. In einem ersten Teil wird der Frage nachgegangen, wie sich bei Kindern und Jugendlichen soziale Kompetenzen entwickeln, wobei die verschiedenen Entwicklungsphasen vom Kleinkind bis zum Jugendlichen berücksichtigt werden. Heidi Simoni, Judith Herren, Silvana Kappeler und Batya Licht untersuchen beispielsweise die hochinteressante Frage, wie stark die soziale Kompetenz bereits von den ersten beiden Lebensjahren geprägt wird - insbesondere von sozialen Kontakten zu anderen Kindern. Die Forscherinnen kommen zu dem eindeutigen Schluss, "dass Kinder durch andere Kinder bereits in den ersten beiden Lebensjahren in beträchtlichem Masse sozio-kognitiv gefordert sind", und, "dass (auch) für den Erwerb sozialer Kompetenzen der Stellenwert von Übung und Erfahrung ab dem frühen Kindesalter nicht unterschätzt werden sollte." Diese Erkenntnis legt den Schluss nahe, dass schon in den ersten Jahren gewisse Grundlagen gelegt und so - je nach dem, ob die Eltern Kind-Kind-Kontakte in der ersten Lebensphase fördern - Bahnen vorgespurt werden, die später vielleicht nicht mehr so einfach korrigiert werden können. Diese Erkenntnis ist insbesondere deshalb wichtig, weil auf diese frühkindliche Phase die Öffentlichkeit eigentlich kaum Einfluss nehmen kann, was in der Phase der Kindergarten- und Schulpflicht natürlich anders ist.

Die Beiträge im zweiten Teil befassen sich mit der Frage, wie soziale Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen angemessen gefördert werden können. Die Antworten liefern wohl die entscheidenden Argumente gegen gern gestellte, populistische Forderungen nach mehr Repression, drakonische Strafen oder Kollektivhaftung für Ausländer, denn wer nachweislich erfolgsversprechende Fördermassnahmen einfach ablehnt, entlarvt sich selber als Demagoge, der die öffentliche Empörung für die Erreichung politischer Ziele missbraucht. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind eindeutig: Die sieben Beiträge zeigen, dass mit geeigneten Mitteln die soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen gefördert werden kann. Die untersuchten Interventions- und Präventionsprogramme richten sich an unterschiedliche Altersgruppen, zwei setzen im Kindergartenalter an, und sind zum Teil auf mehrere Ebenen ausgerichtet, richten sich also nicht nur an das einzelne Kind, sondern beziehen auch Eltern und Lehrpersonen mit ein oder betrachten neben dem Individuum auch die Schule oder Klasse als Ganzes.

Die Diskussionen der Ergebnisse machen aber auch deutlich, wie komplex die Thematik ist. Wer einfache Handlungsanweisungen oder Patentrezepte erwartet, verkennt dies. Fest steht aber, dass etwas getan werden kann und die Gesellschaft nicht hilflos diesem Thema ausgeliefert ist. Gefordert sind in erster Linie nicht Präventionsspezialisten, sondern Eltern, Lehrpersonen und andere Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen.


von Jan Rintelen - 04. Juni 2009
Soziale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen
Tina Malti (Hrsg.)
Sonja Perren (Hrsg.)
Soziale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen

Entwicklungsprozesse und Förderungsmöglichkeiten
Kohlhammer 2008
280 Seiten, broschiert
EAN 978-3170198470