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Truman Capote: Sommerdiebe

Eine verheerende Liebe

Mit dem Roman "Other Voices, other rooms" aus dem Jahr 1948, auf Deutsch "Andere Stimmen, andere Räume", ist der 1924 in New Orleans geborene Schriftsteller Truman Capote als talentierter Nachwuchsautor bekannt geworden. Die "Grasharfe", "Frühstück bei Tiffany" und der in den Bestsellerlisten geführte Tatsachenroman "Kaltblütig" sprechen für Capotes schriftliche Leistung, die oft mit William Faulkner, James Joyce und Carson McCullers verglichen wird. "Other Voices, other rooms" galt lange als Capotes Romandebüt. Doch 1984, 20 Jahre nach seinem Tod, entdeckt man bei einer Versteigerung bei Sotheby's sein tatsächliches Romandebüt, das erschienen ist, als Capote 19 Jahre alt war: "Summer Crossing", auf Deutsch "Sommerdiebe", ein leidenschaftlicher Liebesroman.

Ein unabhängiger Erzähler schildert die Liebesbeziehung zwischen der eigenwilligen, sich langsam an das Leben herantastenden, lebenshungrigen 17-jährigen Grady McNeil und dem 23-jährigen einfachen, derben Clyde Manzer.

Es ist die Zeit nach dem Krieg. Es ist Sommer. Es ist New York. Gradys Familie hat ihren Platz in der wohlhabenden New Yorker Gesellschaft. Als die Eltern eine Europareise mit der Queen Mary planen, ahnen sie nicht, dass Grady den Sommer nur in New York verbringen möchte, um ungestört mit ihrer heimlichen Liebe Clyde zu sein. Entgegen Gradys Wunsch besteht die Mutter darauf, sie nach der Reise mit einer Party in die New Yorker Gesellschaft einzuführen. Die sonst so rebellische Grady gibt sich gelassen und gleichmütig. Die Feier ist noch weit entfernt. Sie sieht einem unbefangenen und befreiten Sommer in New York entgegen. Einen Sommer mit dem facettenreichen und lebhaften Broadway, der sie schon im Alter von 13 Jahren faszinierte und seitdem heimlicher Anziehungspunkt ist. Kino, Jazz und eine durch die Leuchtreklame verursachte nie hereinbrechende Dunkelheit. Ein ungezwungenes Eintauchen in diese andere Welt.

In diesem Sommer kann sie ihrer heimlichen Liebe zu Clyde endlich ungezügelten Lauf lassen. Clyde ist ihr auf einem bewachten Parkplatz in der Nähe ihrer elterlichen Penthousewohnung begegnet. Er ist Parkplatzwächter, kommt aus Brooklyn und führt dort das Leben eines ganz "gewöhnlichen" Menschen. Grady mag seine starke männliche Art. Ihr gefällt seine einfache Kleidung und sein männlich, aufrechter Gang. Sie bewundert ihn, da er mit den banalen Abläufen des Alltags fertig wird. Er weiß, wie man mit einer U-Bahn fährt, er packt die Stadt mit ihren Anforderungen. Montags, wenn er frei hat, treffen sie sich heimlich. Sie mag das billig wirkende Feuerzeug, das er für sie an einer Bude gewonnen hat. Jede Flamme trägt das Geheimnis ihrer Liebe in sich. Wenn Clyde seine Beherrschung verliert und er sich ihr ganz ungehemmt und arglos öffnet, fühlt sie sich ihm ganz nah.

Bei einem letzten gemeinsamen Frühstück vor der Abreise mit der Familie im Plaza gibt Grady vor, sich mit ihrem Jugendfreund Peter Bell zu treffen. Der glückliche Zufall führt sie in der Hotelhalle mit ihm zusammen. Die Eltern und ihre Schwester schöpfen keinen Verdacht. Peter erkennt, dass er Grady schon immer geliebt hat. Indem sie ihn in ihr Liebesgeheimnis einweiht, hebt sie Clyde aus ihrer Traumwelt heraus in die Realität. Nun existiert er nicht mehr nur für sie, sondern auch für andere.

Der Nachmittag ist für Clyde reserviert. Grady spürt, dass der Kontrast zwischen ihrer und Clydes Welt nicht größer sein könnte. Er kennt noch nicht einmal den Zoo und die 5th Avenue ist gewiss keine Gegend für Leute wie Clyde. In der bürgerlich-exklusiven Wohnung der McNeils, die Clyde und sie den Sommer über heimlich nutzen, verliert er seine sonst vorhandene Sicherheit. Die Ereignisse dieses Sommers überschlagen sich. Durch Zufall erfährt Grady von Clydes Verlobten Rebecca. Clyde wollen seine gescheiterten beruflichen Pläne nicht mehr aus dem Kopf gehen. Zweifel an ihrer Liebe plagen ihn, da er spürt, dass er und Grady ein anderes Leben haben und dass er sie nicht halten kann. Er darf Grady daher nicht zu sehr an sich herankommen lassen.

Ist es die Langeweile, das Grübeln über die Ausweglosigkeit ihrer Liebe oder einfach die Hitze dieses Sommers, die ihre Emotionen aufheizt und sie veranlasst nach Red Bank New Yersey zu fahren und am frühen Morgen zu heiraten? Als sie Clydes Familie besuchen, spürt Grady, dass da etwas ist, vor dem sie zurückweicht. Nähe. Sie spürt, dass die einfachen Lebensumstände und das dichte Zusammenleben der Familie Manzer niemals ihren Vorstellungen entsprechen wird.

Als Rebecca auftaucht, schickt Clyde Grady nach Hause. Grady nimmt erstmalig wahr, dass das von Clyde genutzte Zimmer ihrer Mutter in einem verwüsteten, unordentlichen nie dagewesenen Zustand ist. Ihre Gefühle fahren mit ihr Achterbahn. Früher hat sie sich mit schnellem Autofahren betäubt. Jetzt wartet sie vergeblich auf Clyde. Die Stille um sie herum ist schneidend. Die einst herbeigesehnte Einsamkeit kann sie jetzt kaum ertragen.

Als der braungebrannte Peter sie unverhofft besucht, denkt sie an eine andere Zeit, eine Zeit im Sommer am Meer. Ihr Geheimnis der Ehe behält sie für sich und reist zur ihrer Schwester. Clyde hat sich unterdessen in einem Streit wegen Grady mit seiner Familie überworfen. Er sehnt sich nach Grady. Eine schmerzhafte Tätowierung mit dem Namen GRADY ziert neuerdings seinen Arm.

Grady zieht sich immer mehr in sich zurück und verbringt die Tage bei ihrer Schwester allein am Strand. Sie spürt und weiß, dass sie schwanger ist. In dem Moment, als es ihr gelingt, ihre Beziehung zu sich selbst zu klären und für sich eine Zukunft zu sehen, taucht Clyde auf. Er ist nicht allein. Ein Freund begleitet ihn, um ihm die Angst vor der Begegnung mit Grady zu nehmen. Eine Aussprache soll in New York stattfinden. Die emotionale Spannung während der gemeinsamen Rückfahrt ist aber so groß, dass Grady sich verleiten lässt, Drogen zu nehmen. Völlig benommen und high machen sie einen Stopp in einer Bar namens Paper Doll. Als Peter auftaucht und Grady in ihrem Rausch nach Hause bringen möchte, bahnt sich eine Schlägerei zwischen ihm und Clyde an. Grady gelangt durch die Hintertür hinaus und findet sich in ihrem Auto wieder, Clyde und Peter auf dem Rücksitz. Während sie wie berauscht den Wagen durch die Nacht jagt, schlägt Clyde auf Peter ein. Mit der Queensboro Bridge werden sie zu Opfern ihrer Liebe, die sich für beide Seiten zerstörerisch zeigt.

Kritik

Capotes Geschichte der Liebe und ihrer Abgründe der gegensätzlichen Protagonisten Grady und Clyde ist bewegend. Auf glaubhafte Art und Weise und mit unvergleichlicher Lebendigkeit begleitet er die Sehnsüchte der eigenwilligen und aus einem wohlhabenden Elternhaus stammenden Grady in ihrer Liebe zu dem einfachen Parkplatzwächter Clyde, der sie schließlich beide zum Opfer fallen.

Capote zeigt auf brillante Art, dass Liebe nicht nur leicht, sondern auch schmerzhaft sein kann. Mit seinen sehr aussagestarken Sätzen gelingt es Capote, die Empfindungen seiner Charaktere mit Tiefe darzustellen. Der gefühlsmäßige Handlungsstrang lenkt den Blick auch auf die gesellschaftlichen Probleme. Mit großer Sensibilität zeichnet er den Versuch der Protagonisten nach, im Netz der Moral eine Persönlichkeit zu werden.

Die glänzend gewählten Metaphern wie "... das Glitzern des Verkehrs hob die Stille des Junimorgens im Central Park hervor und die Sonne strömte mit der Kraft des jungen Sommers, der den grünen Schorf des Frühlings trocknet..." machen das Werk zu einem unvergleichlichen Lesevergnügen. Die lebendige, bildhafte Prosa, die wie ein dünner, sanfter Schleier über den Zeilen liegt, lässt den Leser atmosphärisch nicht nur in die Umgebung, sondern auch in die Liebe eintauchen.


von Soraya Levin - 04. Mai 2006
Sommerdiebe
Truman Capote
Sommerdiebe

Kein & Aber 2006
145 Seiten, gebunden
EAN 978-3036951577
aus dem Englischen von Heidi Zerning