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Rebekka Horlacher: Bildung

Was Bildung ist

Um es gleich vorweg zu nehmen: Wer die Lektüre mit der Erwartung beginnt, eine (Er-) Klärung des Bildungsbegriffs zu erhalten, wird bei diesem Buch nicht auf seine Kosten kommen. Allerdings ist dies auch gar nicht das erklärte Ziel der Autorin. Rebekka Horlacher geht es es vielmehr darum zu zeigen, wie und in welchen Kontexten von Bildung gesprochen wird, um die mit dem Bildungsbegriff impliziten Erwartungen sichtbar zu machen.

Ausgehend von den religiösen und philosophischen Grundlagen im 18. Jahrhundert wird die Pädagogisierung von Bildung, ihre politische und soziale und nicht zuletzt ihre kritische Dimension herausgearbeitet. Bildung tritt dabei niemals als absoluter Begriff auf, sondern wird durchgehend in ihrer Geschichtlichkeit und damit einhergehenden Veränderbarkeit präsentiert. Interessanterweise richtet die Autorin dabei ihre Aufmerksamkeit - und damit auch die des Lesers/ der Leserin - nicht selten auf jene für Bildung konstitutiven Einflüsse aus dem angelsächsischen Raum. Hierdurch werden Bezüge deutlich, die in der Fachliteratur nur selten thematisiert werden. Exemplarisch sei hier der Einfluss Shaftesburys auf protestantisch geprägte Intellektuelle aus dem deutschsprachigen Raum (32) hervorgehoben. Für Shaftesbury liegt im Gespräch mit sich selbst eine Möglichkeit der Selbstvervollkommnung. Dieser Aspekt, bei dem das Ausgerichtetsein nach innen im Vordergrund steht, findet sich bei Johann Gottfried Herder wieder. Herder postuliert eine Trennung zwischen Kopf und Herz, dernach der Mensch nicht primär seinem Wissen, sondern seinen Neigungen folgt. Bezeichnend für Herders Bildungsbegriff ist das Konzept einer mystisch-urwüchsigen und damit nicht rational-vernünftigen Natur (33).

Über die Rolle des Bildungsromans führt uns die Autorin hin zur politischen Dimension von Bildung. Fichte ist es, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts betont, dass die Erneuerung der Nation allein über Erziehung und nicht über Politik möglich sei. Erziehung müsse vom Staat ausgehen, und dürfe sich nicht auf den Nützlichkeitsaspekt beschränken, wenn sie den ganzen Menschen bilden wolle. Dass mit der Bildung nicht nur eine Vervollkommnung des Menschen, sondern über den Einzelnen auch eine Verbesserung des Staates insgesamt einhergehe, ist die tiefe Überzeugung eines Wilhelm von Humboldt. Sich am Ideal der Antike orientierend, bezeichnet Humboldt die Unterscheidung zwischen einer allgemein gefassten Bildung einerseits und einer Berufsausbildung bzw. Ständebildung, wie sie von Vertretern des Philanthropismus und der Aufklärungspädagogik apostrophiert wurde, andererseits (49). Friedrich Immanuel Niethammer stimmt dabei einer klaren Unterscheidung zwischen Philanthropismus und Humanismus durchaus zu. Bildung ist für Niethammer individuelle Bildung, die sich in Distanz zur Welt entfaltet und nicht in einer zielgerichteten Beschäftigung mit Gegenständen. Wohl aber sind Allgemeinbildung und Berufsausbildung für ihn nicht zwingend gegensätzlich, vielmehr ist der Bildungsprozess des Menschen für Niethammer in drei Phasen beschreibbar. Wo zu Beginn der Bildungsprozess vom Erzieher begleitet und unterstützt wird, soll Bildung im weiteren Verlauf sukzessive in Selbstbildung übergehen. Zuletzt sei damit eine Berufsausbildung auf einer höheren Stufe möglich (53). Im krassen Gegensatz dazu stehen die Vertreter des Neuhumanismus: "Ökonomie und Technik und überhaupt alles 'Nützliche' wurden abgewertet und aus dem eigentlichen Bildungskanon entfernt. Bildung bezeichnete damit die hohen moralischen Ziele, Ausbildung die profanen lebensnahen Fähigkeiten." (54). Damit kann der Neuhumanismus zurecht als Gegenbewegung der Aufklärungspädagogik bestimmt werden.

Im Wissenschaftsbetrieb zeichnet sich im 19. Jahrhundert eine allmähliche Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ab. Während die von der Naturphilosophie des Deutschen Idealismus beeinflussten Naturwissenschaften eine Verbindung zu den Geisteswissenschaften durchaus ausmachen kann, werten die am Empirismus orientierte Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften als höchst spekulativ ab. Es liege im Vermögen der Naturwissenschaften - so deren Vertreter - entscheidend zur Überwindung der sozialen Ungleichheiten beizusteuern. Ein naturwissenschaftlich-geprägter Bildungsbegriff konnte sich unterdessen im deutschsprachigen Raum nicht durchsetzen (61).

Während und infolge der Weimarer Republik wird die Geisteswissenschaftliche Pädagogik zur dominanten Tradition innerhalb der akademischen Erziehungswissenschaft (68). Nach Herman Nohl befördere Pädagogik die Hervorbringung des "neuen Menschen". Bildung orientiere sich dabei keineswegs am Ideal moderner Wissenschaften. Fern solcher staatlicher, kultureller oder eben akademisch-wissenschaftlicher Ansprüche bestehe nach Nohl ein immanenter Sinn des Daseins, ein Telos der Geschichte. Für Nohl ist die Jugendbewegung, "die noch etwas unreflektierte Verwirklichung des Ideals der Bildung" (71).

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist es die an die Frankfurter Schule anschließende Kritische Bildungstheorie, die sich der Frage widmet, wie ein Bildungsbegriff gerettet werden könne, "der die politischen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen eines totalitären Regimes nicht hatte verhindern können" (82). Heinz-Joachim Heydorn arbeitet eine dem Bildungsbegriff eigentümliche Dialektik heraus, derzufolge Bildung durch zunehmende Institutionalisierung ökonomisiert und von staatlichen Interessen vereinnahmt wird, wodurch ihr ursprünglich emanzipatorischer Charakter verloren geht (85). Hier könnte man mit Gernot Koneffke ergänzen, dass (auch institutionalisierte) Bildung immer auch ein subversives Moment innehat. Inwieweit das Subversive selbst wiederum emanzipatorisch ist, steht auf einem anderen Blatt. Ganz im Gegensatz zur Kritischen Bildungstheorie steht die in den 1960er Jahren eingeleitete sogenannte realistische Wende. Mit ihr geht eine Bewegung einher, die sich abwendet von einer mit der Hermeneutik verankerten Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Das Augenmerk dieser Pädagogik liegt auf "wissenschaftliche gesicherte[n] Daten und Fakten [...], die auf ihre Validität und Rentabilität geprüft werden" (89) können. Ziel ist es, "sichere Prognosen von Erziehungs- und Bildungsprozessen möglich zu machen und wirksame Techniken zu deren Veränderung zu generieren" (89). Die Autorin betont in dem Zusammenhang zurecht, dass der tiefere Sinn von Bildung und dessen Emanzipationsgehalt im Falle der realistischen Wende sicherlich nicht im Vordergrund steht (88).

Aktuell stehen wir vor der Frage, welche Rolle dem Bildungsbegriff in Angesicht der Erstarkung des Kompetenzbegriffs zugeordnet werden kann. "Im Gegensatz zu Bildung wird Kompetenz als messbar beschrieben und Kompetenzen können gezielt gelernt werden" (95). Damit können Kompetenzen hervorragend Gegenstand sogenannter summativer Assessments werden. Es mag freilich verführerisch anmuten, den schwer fassbaren Bildungsbegriff hinter den stärker verfügbaren Kompetenzbegriff verschwinden zu lassen. Was der Kompetenzbegriff allerdings nicht vermag (und darin liegt sein großer Nachteil gegenüber dem Bildungsbegriff): er kann nicht als Grundlage ethischer und normativer Entscheidungen fungieren (97). Dazu bedarf es, so Horlacher, dann doch wieder des Bildungsbegriffs, der aber nun eine absolute Dimension erhält, kurzum: er verliert seine Geschichtlichkeit und damit seine Veränderbarkeit: "Ein wie auch immer konkret ausformulierter Bildungsbegriff - in der Regel wird auf den 'Klassiker' Humboldt rekurriert - gibt die normative Orientierung vor, dies auch für bildungspolitische Fragen der Gegenwart." (97).

Horlachers kleine Einführung in die Entstehung des Bildungsbegriffs erweist sich insgesamt als kurzweiliges und überaus informatives Lesevergnügen. Die verschiedenen Kontexte von Bildung laden zu unterschiedlichen Perspektiven ein. Es werden dabei Dimensionen des Bildungsbegriffs deutlich, die implizit schon im 18. Jahrhundert (dem sogenannten Pädagogischen Jahrhundert) vorhanden waren und doch erst in der Gegenwart unter bestimmten historischen Bedingungen zur Entfaltung gelangen. Die Autorin geht durchweg vorsichtig mit dem Leser/ der Leserin um, Fachbegriffe werden nachvollziehbar erläutert, und auch die Autoren der für den Bildungsbegriff bedeutsamen Texte kommen in "Bildung" zu Wort. Zusammenfassend ist das Buch neben Studierenden in den Anfangssemestern allen an der Genese des Bildungsbegriffs Interessierten wärmstens zu empfehlen.


von Thomas Damberger - 22. März 2011
Bildung
Rebekka Horlacher
Bildung

UTB 2011
111 Seiten, broschiert
EAN 978-3825235222