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Paul Auster: Winterjournal

Paul Auster

Anzuzeigen ist ein aussergewöhnlich persönliches und bewegendes Buch, geschrieben mit einem Händchen für Dramaturgie und mit einem sehr schönen Sinn für Witz: "'Merk dir das, Charlie', sagte er, 'lass keine Gelegenheit zum Pinkeln aus.' So werden uralte Weisheiten von einer Generation zur nächsten weitergereicht."

Es handle sich bei diesem Werk um "eine Lebensbeichte ganz aus der Warte des Körpers", lese ich im Klappentext. Da hab ich offenbar ein anderes Buch gelesen. Zum einen ist es für mich keine Beichte, und eine Lebensbeichte sowieso nicht, zum andern stelle ich mir unter der "Geschichte eines Körpers" etwas in Richtung Biologie vor und keine reflektierten, autobiografischen Begebenheiten aus den verschiedensten Lebensjahren.

Von seinen einundzwanzig ständigen Wohnsitzen von der Geburt bis zur Gegenwart berichtet Auster und nennt sie seine einundzwanzig "Haltepunkte", darunter auch San Francisco ("... je besser du San Francisco kennenlerntest, desto kleiner und langweiliger kam es dir vor ...") , von seiner ersten Ehe und der Frau, die er "am 23. Februar 1981" kennenlernte und mit der er auch heute noch zusammen ist, vom Tod seiner Mutter, bei dem er nicht weinen und nicht trauern konnte, "wie Leute es normalerweise tun". Doch was ihm zwei Tage nach ihrem Tod widerfährt, ist an Dramatik kaum zu überbieten: "der Hammer, der ohne Vorwarnung niedersaust, und dann die Atemnot, das Herzrasen, der Schwindel, die Schweissausbrüche, der Körper, der zu Boden stürzt, die Arme und Beine, die zu Stein werden, die Schreie, die aus verrückt gewordenen, luftleeren Lungen hervorbrechen, und die Gewissheit, dass dein Ende nahe ist, dass die Welt binnen einer Sekunde zu existieren aufhören wird, weil du dann selbst nicht mehr existierst."

Wie er das Leben seiner Mutter schildert, ist besonders eindrücklich. Von ihrem Unfall, nach dem sie keinen Schluck Alkohol mehr trank, von ihrer zweiten Ehe, die so war, wie sich jeder die Ehe ersehnt, und von ihrer dritten, die der Sohn für einen törichten Entschluss hielt.

"Winterjournal" erzählt von Privatem, doch ein privates Buch ist es nicht, sondern eines, das der Komplexität und Widersprüchlichkeit der eigenen Gefühle Ausdruck gibt, eines, das genau und hellsichtig Austers Wahrnehmungen registriert. So beschreibt er etwa seine zehn Jahre ältere Kusine, als "streitsüchtige, selbsternannte Sittenwächterin", doch eben auch als "nicht dumm, sie hat das College 'summa cum laude' abgeschlossen, sie ist Psychologin und führt eine grosse, gutgehende Praxis, eine aufgeschlossenen, tatkräftige Frau".

Paul Auster betreibt keine Nabelschau, dafür ist er viel zu interessiert an der Welt. Von seinen Nachbarn im Duchess County sind ihm die Tragödien am deutlichsten in Erinnerung geblieben, "zum Beispiel die Frau, die mit achtundzwanzig an MS erkrankte, oder das vergrämte Paar nebenan, dessen Tochter im Jahr zuvor mit fünfundzwanzig an Krebs gestorben war, die Mutter nur mehr Haut und Knochen und dem Gin verfallen, ihr liebevoller Mann nach Kräften bemüht, sie zu stützen, so viel Leid hinter den verschlossenen Türen und zugezogenen Fenstern dieser Häuser, und auch dein Haus machte da keine Ausnahme. Alter: 30 bis 31. Eine trostlose Zeit, ohne Frage die trostloseste Zeit, die du jemals durchlebt hast, einziger Lichtblick die Geburt deines Sohnes im Juni 1977. Aber hier brach deine erste Ehe auseinander, hier erdrückte dich die Last ständiger Geldsorgen (wie in 'Von der Hand in den Mund' beschrieben), und hier bist du als Dichter in die Sackgasse geraten."

Das ist sehr aufrichtig, sehr menschlich, sehr lebensklug. Auch weil sich da jemand als einer unter anderen wahrnimmt. Und es ist sehr gut geschrieben.


von Hans Durrer - 16. Februar 2014
Winterjournal
Paul Auster
Winterjournal

Rowohlt 2013
Originalsprache: Englisch
256 Seiten, gebunden
EAN 978-3498000875