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Neapel und der Süden

Süditalien vor 100 Jahren in Fotografien

"Neapel sehen und sterben", Goethes geflügeltes Wort, das er wohl auf seiner italienischen Reise aufgeschnappt haben dürfte, ist hinlänglich bekannt, aber weniger bekannt dürfte sein Ursprung sein. Eigentlich handelt es sich im italienischen Original nämlich um ein Wortspiel: "Vedi Napoli e poi …Muori." Muori ist mit Majuskel geschrieben, weil es diese kleine Ortschaft in der Nähe Neapels gibt, klein geschrieben aber "sterben" bedeutet. Neapel ist tatsächlich zum Sterben schön und das zeigt aufs Neue der bei Hatje Cantz erschienene Fotoband zur Ausstellung der Neuen Pinakothek in München, die vom 11.11.2011 bis 26.2.2012 stattfand.

Sehnsuchts- und Projektionsort Süden

Dieter Richter, der den Süden unlängst wieder in der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT auf seine mentalitätsbedingten Disparitäten untersuchte und auch der Verfasser des Standardwerkes zu dieser beliebtesten aller Himmelsrichtungen ist ("Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung"), spricht auch davon, dass Goethe sich in Rom wiedergeboren gefühlt habe, Herder aber in Neapel "nur atmen" wollte und sich davon sogar erhoffte "gesund und gestärkt zurückzukehren". Protestantischer Arbeitsethos traf auf katholische Faulenzerei und Sorgenlosigkeit und die Klischees vom Süden drücken wohl mehr die eigenen Sehnsüchte und Wünsche aus, als die dort tatsächlich herrschende Realität: der "homme du Nord" und der "homme du Midi". Letzterer lebe stets für den Augenblick, sei "beherrscht von Leidenschaften" und dem "Durst nach Rache". Er verabscheue im Gegensatz zum Mensch des Nordens die Trunkenheit und den Selbstmord und verwirkliche sich dafür im "Rausch der Liebe" schreibt etwa Karl Victor von Bonstetten Anfang des 19. Jahrhunderts über die Italiener. Der südliche Mensch sei dazu verdammt "à agir sans réfléchir", der andere zum "à réfléchir sans agir". Dass damit auch die eigenen Begehrlichkeiten der zumeist allein Reisenden ausgedrückt werden, erwähnt Richter zu Recht. Karl Friedrich Benkowitz fand in Neapel bald den "Abschaum der Menschen, den Gipfel der Verworfenheit". Oder auch: "Es ist die Religion und zwar die katholische Religion, welche die Menschen im Süden so abscheulich macht."

Die "Parthenopäische Republik"

Aber so abscheulich sind sie gar nicht, wenn man die Sprache spricht, wird man bald verstehen, welch großes Herz besonders die Neapolitaner in sich tragen, um wieder ein weiteres Stereotyp zu transportieren, wird einem doch jeder zustimmen, der in Neapels Straßen einmal nach dem Weg gefragt hat oder dem Cafè mit der besten sfogliatella. Dorothea Ritter, Herausgeberin des vorliegenden Bandes, schreibt im Vorwort über die historische Entwicklung des Königreichs beider Sizilien, zu dem auch Neapel gehörte. Dieses bestand mit Unterbrechungen seit 1735, wurde aber zweimal durch die französische Eroberung republikanisiert. Die "Parthenopäische Republik" wurde in Neapel erst ausgerufen, dann von den Bourbonen niedergeschlagen und 1806 als Königreich Neapel unter Joachim Murat erneuert. Die Bourbonen, die ab 1815 wieder am Ruder waren, waren in der Bevölkerung verhasst, und konnten endgültig erst von Garibaldi vertrieben werden. Gaeta, der Rückzugsort der Bourbonen wurde von Giorgio Sommer fotografiert, und das Foto in diesem Band zeigt es nach dem Angriff der Piemonteser Artillerie im Februar 1861. Auch Bilder von Garibaldi oder die Barrikaden in der Via Toledo sind abgebildet.

Der authentische Süden: mehr als nur Meer

"Signifikant ist," schreibt Dorothea Ritter, "dass die fotografierte Topografie in dem hier behandelten Zeitraum zwischen 1846 und 1900 überwiegend auf Aussicht und Überblick, viel weniger auf einzelne Monumente ausgerichtet ist, als andernorts." Aber auch der Lazzarone, der für die Ikonographie so typische Bettler, findet Ende des 19. Jahrhunderts Eingang in die Stereotypisierung Neapels und wird damit auch für die touristische Vermarktung der Stadt wichtig, da er wie kein anderer das Klischee vom "dolce far niente" verkörperte. Der Ausbruch des Vesuvs wird von Giorgio Sommer festgehalten, Salerno, Amalfi, der Monte Pellegrino bei Palermo und vieles andere mehr. Der Sehnsuchtsort Italien wird besonders im Süden real befriedigt, da er sich hier sehr authentisch erhalten hat.

Vorliegender Fotoband gibt einen Einblick, wie es vor mehr als einem Jahrhundert dort war und wie man es in der einen oder anderen Ecke noch heute vorfinden kann. Schwerpunkte der Sammlung Siegert bilden Neapel mit seiner Umgebung - dem Vesuv und den archäologischen Stätten Pompeji und Paestum - sowie Sizilien mit Ansichten von Palermo, Agrigent und Taormina. Es sind aber auch Genre- und Alltagsszenen zu sehen, der Vesuvausbruch 1872 oder die fotografische Dokumentation des Erdbebens, das 1883 die Stadt Casamicciola zerstört hat.


von Juergen Weber - 12. August 2012
Neapel und der Süden
Dietmar Siegert (Hrsg.)
Herbert W. Rott (Hrsg.)
Neapel und der Süden

Fotografien 1846-1900 - Sammlung Siegert
Hatje Cantz 2011
192 Seiten, gebunden
EAN 978-3775731621