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Melitta Breznik: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen

Der lange Schatten der Vergangenheit

Als die neunzigjährige Margarethe in Basel zu ihrer (vielleicht letzten) Reise aufbricht, lichtet sich der Nebel und die wohlige Wärme der Sonnenstrahlen erhellt ihr Gemüt.

Nebel liegt auch über der Geschichte der Familie. Ereignisse der Vergangenheit haben Margarethe und ihre Tochter Lena entzweit, gegenseitige Verletzungen, Missverständnisse und unterschiedliche Perspektiven belasten das Generationenverhältnis noch immer.

Dieser Nebel beginnt sich auf der knapp dreistündigen Reise Margarethes an ihren Geburtsort Bergen-Enkheim zu lichten, gut gehütete Familiengeheimnisse werden ausgegraben und treten allmählich an die Oberfläche. Zumindest für die Lesenden, weil die Autorin Melitta Breznik neben Margaretha auch Lena ausgiebig zu Wort kommen lässt und die tragische Geschichte des ersten Ehemannes und Vaters Max dazwischenschiebt. Die Autorin macht dadurch die Lesenden zu Eingeweihten, denn die sukzessive Erschliessung der drei Lebensgeschichten bildet den Schlüssel zur Erklärung der familiären Verwerfungen. Da die Monologe sich nie in Dialoge verwandeln, bleibt dies den Protagonisten versagt. Unterschiedliche Erfahrungen, individuelle Perspektiven und ein bruchstückhaftes Wissen des andern bestimmen die Wahrnehmung und das eigene Handeln.

Im Zentrum von Brezniks Roman steht Margarethe, die seit einer misslungenen Knieoperation an den Rollstuhl gefesselt ist. Sie verlässt die behagliche "Altersklause", entzieht sich der Ordnung des Heims, verzichtet auf das routinemässige Unterhaltungsprogramm, um die letzte Chance zur Versöhnung mit ihrer Tochter zu nutzen. Die Bahnfahrt wird zu einer Reise in die Vergangenheit. Die Kindheit nach dem Ersten Weltkrieg, der Bombenlärm in den Luftschutzkellern des Zweiten Krieges scheinen auf. Hervor treten ebenso die Vergewaltigung durch die russischen Befreier, ein Trauma, über das sie nie mit jemandem sprechen konnte, und die schwierige Beziehung zu ihrem ersten Mann, der seelisch gebrochen aus dem Krieg heimkehrt und durch einen Unfall beide Beine verliert.

Breznik geht es nicht nur um ein individuelles Familienschicksal, denn die Auslöser der Missverständnisse stehen in einem grösseren Zusammenhang, sind Teil der europäischen Tragödie des 20. Jahrhunderts, führen uns in lange Zeit verschwiegene Kapitel der österreichischen Geschichte. Vater und Grossvater von Max waren am Schutzbundaufstand gegen die austrofaschistische Regierung Dollfuss in Kapfenberg beteiligt. Weil man die Rache der Faschisten fürchtet, werden Max und sein Bruder zur Sicherheit in ein sowjetisches Kinderheim verschleppt. Kaum wird dieses Unheil für die Kinder durch die Rückkehr nach Österreich korrigiert, wartet bereits die nächste Katastrophe. Blauäugig meldet sich Max zur Wehrmacht, wird zum Beteiligten an Kriegsverbrechen in Griechenland und muss mehrere Jahre in einem britischen Kriegsgefangenenlager verbringen.

Max ist nach seiner Rückkehr ein anderer, ohne dass Margarethe genau weiss, was ihr Ehemann alles durchmachen musste. Die Trennung der Eltern, gegenseitig abgesprochen und als Schutz für das Kind gedacht, führt zur Abkehr Lenas von der Mutter, treibt sie früh aus Wien fort. Sie macht die Mutter für die Einweisung des Vaters in eine Psychiatrische Klinik und seinen nachfolgenden Suizid verantwortlich. "Noch heute glaube ich, Vater hätte weitergelebt, wenn Mutter und ich damals geblieben wären und für ihn gesorgt hätten", schreibt Lena in ihren Aufzeichnungen. Die wirklichen Gründe bleiben der Tochter verborgen, ungeschickte Äusserungen der Mutter zum Tod von Lenas Zwillingen nach einer Frühgeburt führen zum endgültigen Bruch.

Der Roman beschreibt traumatische Erfahrungen und ihre Auswirkungen über mehrere Generationen, Breznik betritt damit ein Gebiet, auf dem sie sich als Psychiaterin auskennt. Ursache und Wirkung psychischer Erschütterungen. Gerade darin sehe ich jedoch eine Schwäche im Erzählstrang. Dem Lesenden wird das Erklärungsmodell der Autorin etwas zu eindeutig präsentiert: Die Gründe für das Scheitern der Familienbeziehungen liegen ausserhalb, in psychisch und gesellschaftlich verdrängten Ereignissen, und setzen sich über die Generationen fort.

Brezniks Stärke sind die Zurückhaltung und der Respekt, mit denen sie ihre Protagonisten beschreibt. Hier ist eine ausserordentlich subtile und feinfühlige Autorin am Werk, die sich jedes moralisierenden Untertons enthält. Breznik bringt uns nahe an die Familie heran, führt uns den Schrecken der totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts und das Unheil des Krieges vor Augen, zeigt uns, wie lange die Schatten der Vergangenheit sich ins individuelle Leben drängen. Kurz gesagt: "Der Sommer hat lange auf sich warten lassen" ist ein gradliniges, unprätentiöses Buch von grosser Tiefe. Abgesehen von vereinzelten Stilblüten vermag es auch sprachlich zu überzeugen.

Am Schluss ist er da, der Sommer, auch wenn sich die Sonne nicht zeigt. Er hat lange auf sich warten lassen und Margerethe kann die Ernte des Lebens vielleicht doch noch einfahren. Eine solche Ernte möge der Autorin auch mit diesem klugen Buch beschieden sein.


von Urs Hardegger - 07. Dezember 2013
Der Sommer hat lange auf sich warten lassen
Melitta Breznik
Der Sommer hat lange auf sich warten lassen

Luchterhand 2013
256 Seiten, gebunden
EAN 978-3630873985