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John Ruskin: Die Steine von Venedig

Venedig: "Freilichtmuseum der Kunstgeschichte"

Ruskin habe für die Prosa das geleistet, was der Vers der englischen Sprache Shakespeare verdanke. Sein Titel "Modern Painters" hatte ihm diesen Ruf eingebracht, mit dem er sich dann an sein Venedig-Konvolut machte: allein in der deutschen Übersetzung sind es schon 1'400 Seiten und Ruskin machte damit seine Androhung "to eat it all up into my mind, touch by touch" beinahe wahr. Denn er drehte beinahe jeden Stein Venedigs um, um ihn für die Kunstgeschichte zu erfassen und zu katalogisieren, da er den Untergang Venedigs unmittelbar bevorstehen sah: die Österreicher hielten die Stadt besetzt und hatten sie im Aufstand von 1848/49 sogar bombardieren lassen. Ein Verbrechen nicht nur an der Menschheit, sondern auch an einer der schönsten Städte der Welt, wenn nicht der schönsten Stadt der Welt. Das Buch "The Stones of Venice" erschien 1853 und war unter dem Eindruck des baldigen Untergangs entstanden. "Sie hielten das historische Zentrum der Serenissima als Geisel und drohten, bei dem geringsten Ausbruch von Unruhe die ganze Stadt dem Erdboden gleich zu machen". Zudem grassierten Cholera, Hungersnot und der Defätismus der besiegten Venezianer. "Wie Zucker im Tee schmilzt Venedig dahin", soll John Ruskin damals geschrieben haben.

Bestandssicherung des venezianischen Erbes

Das Vergnügungszentrum des europäischen Adels wurde nach Napoleon in der Zeit der österreichischen Besetzung ordentlich heruntergewirtschaftet. Aber auch die Italiener kamen bei Ruskin nicht besser weg, wie er in einem Brief an eine Freundin schrieb: "wirklich Tiere sind, eine Mischung aus Hund und Katze (ohne die Treue des einen und die Reinlichkeit der anderen), aber dass man ihrer Herr wird, wenn man achtsam ist und den Stock eifrig gebraucht. (...), aber bisher habe ich noch kein Gran Dankbarkeit bei ihnen finden können". Ruskin spielte damit auf eine Redewendung Lady Trevelyans in Bezug auf den Umgang mit Hunden an. Ruskin nächtigte 1849 mit seiner Frau Effie im - laut Autoren - einzigen Hotel der Stadt, dem Hotel Danieli und malte auch gerne Aquarelle und fertigte Daguerrotypien von Venedig an. Einige davon sind auch in der vorliegenden Publikation in hoher Qualität reproduziert. "Die Analyse ist ein widerwärtiges Geschäft. (...) Man fühlt nur, wie man eigentlich sollte, wenn man nicht sehr viel über die Sache weiß", soll Ruskin damals notiert haben.

Fraternizing with the enemy?

Andererseits sah Ruskin in der österreichischen Besatzungsmacht aber auch einen Garanten dafür, dass nicht noch mehr historische Bausubstanz zerstört werde. Ein Freund des Ehepaars Ruskin war etwa auch der "Ballonbomber" Karl Paulizza, der gute Umgangsformen hatte, aber für die gescheiterte Bombardierung Venedigs verantwortlich zeichnete. Ein Widerspruch? Nachdem 1851 Franz Joseph I. Venedig besucht hatte, kam auch der Hochadel wieder zurück in die Lagunenstadt und Effie Ruskin wurde bald zur "reine du bal" und John Ruskin verfasste ein Werk, das die Besonderheiten der Stadt in all ihren Facetten hervorhob. "...die für ihren Thron selbst den Stand des Stundenglases ebenso festhielt wie den der See", schrieb er über die Serenissima und lobte deren Entstehung als "Wünschelrute eines Zauberers", denn wäre die Flut nur einen Fuß oder achtzehn Zoll höher gestiegen, hätte man keine Wasserzugänge an den Türen der Paläste anbringen können. Wie durch einen Zufall fügten sich die unterirdischen Wasserströmungen der zufließenden Flüsse des Festlandes perfekt mit Ebbe und Flut des Meeres zusammen. In seinem Werk schildert Ruskin die vier verschiedenen Stilphasen sehr akribisch. So geht er nicht nur ausführlich auf den byzantinischen Baustil von San Marco (11. Jahrhundert), sondern auch auf die Gotik des Dogenpalastes (14.-15. Jahrhundert), den Renaissance-Stil der Libreria, der Bibliothek, die an der Piazzetta dem Palast gegenübersteht (16. Jahrhundert) und die drei Flügel der Prokurazien, die in drei Jahrhunderten entstanden (16., 17. und 19. Jahrhundert), ein.

Das "Freilichtmuseum der Kunstgeschichte" hat heute gerade noch 60'000 Bewohner und wird jedes Jahr von 14 Millionen Touristen besucht. Täglich passieren fünf Kreuzfahrtschiffe den Canale della Giudecca und man stellt sich auch am Anfang des 21. Jahrhunderts noch immer die Frage, wie lange Venedig noch stehen wird. Gut, dass zumindest John Ruskin die Bestände gesichtet und gesichert hat, denn irgendwann wird man behaupten, dass es die Stadt nie gegeben habe, nie geben habe können, da sie die bezauberndste und einzigartigste Stadt der Welt ist, die wie keine andere Fiktion, Traum, Illusion und Realität zu einem einzigen Konglomerat verschwimmen lässt.


von Juergen Weber - 07. Juni 2017
Die Steine von Venedig
John Ruskin
Die Steine von Venedig

Neu komponiert von Catharina Berents und Wolfgang Kemp
Corso 2017
320 Seiten, gebunden
EAN 978-3737407304
Leinenband m. zweifarb. Prägungen