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Daniel Everett: Das glücklichste Volk

Pragmatismus im Urwald

Als der in Kalifornien geborene und heute als Professor für Linguistik an der Illinois State University lehrende Daniel Everett 1977 mit Frau und Kindern zu den Pirahã-Indianern, die an einem Nebenfluss des Amazonas leben, reist, ist er 26, Missionar und entschlossen die Pirahã zum christlichen Glauben zu bekehren. Dazu muss er jedoch zuerst ihre Sprache lernen, die, so viel man weiss, mit keiner anderen lebenden Sprache verwandt ist und ihm am Anfang völlig unzugänglich vorkommt.

Man lernt einiges über Linguistik in diesem Buch. So etwa, dass die Pirahã keine phatische Kommunikation kennen. Bei dieser handelt es sich um den Austausch von Ausdrücken ("Hallo", "Auf Wiedersehen", "Danke" etc), die keine neuen Informationen über die Welt vermitteln, sondern vorwiegend dazu dient, die zwischenmenschlichen Bindungen aufrechtzuerhalten. Oder etwa, dass es im Pirahã keinen Komparativ gibt. Und keine Wörter für Farben. Auch Geschichten über die Vergangenheit kennen die Pirahãs nicht. Und sie sprechen nur über Dinge, die sie selber erlebt haben. Und ...

So faszinierend und gut erzählt das alles ist, "Das glücklichste Volk" ist weit mehr als ein Buch über Linguistik, obwohl die Lektüre schon allein deswegen lohnt. Was hier vorliegt, ist ein enorm spannender Erlebnisbericht, der davon handelt wie jemand (in diesem Falle Daniel Everett) eine andere Kultur lernt. "Wie nie zuvor hatten wir das Gefühl, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber der Amazonas sollte uns immer daran erinnern, wer in Wirklichkeit das Sagen hatte."

Everetts Frau Keren und seine ältere Tochter Shannon werden krank. Anhand des Medizinbuchs für Missionare stellt er die Diagnose Typhus und bemerkt ein paar Seiten weiter trocken: "Wie ich später erfuhr, wussten alle im Dorf ausser mir und meiner Familie, dass Keren und Shannon Malaria hatten." Everett entscheidet sich, abzureisen und Hilfe zu suchen, die er bei den Pirahã nicht findet, doch dies erweist sich als weit schwieriger als angenommen. Die Schilderung dieses beschwerlichen Unterfangens (viele der Menschen, die er um Hilfe angeht, haben kein Verständnis für seine Nöte) liest sich wie ein Krimi.

Eine andere Kultur zu lernen, bedeutet auch umzulernen. Und das fällt uns allen schwer. "... ich habe nie erlebt, dass ein Pirahã sich so verhält, als hätte der Rest der Welt die Pflicht, ihm in seiner Not zu helfen, oder als sei es notwendig, die normalen Alltagstätigkeiten hintanzustellen, weil jemand krank ist oder im Sterben liegt. Das ist keine Hartherzigkeit, sondern Pragmatismus. Und den hatte ich bisher noch nicht gelernt."

Gelernt hat Everett jedoch einiges andere: "Langsam kristallisierte sich für mich eine Gesetzmässigkeit heraus: Sie hatten keine Methoden, um Lebensmittel haltbar zu machen, legten keinen Wert auf Werkzeuge und stellten nur Wegwerfkörbe her. Dies legte die Vermutung nahe, dass die fehlende Sorge um die Zukunft ein kultureller Wert war. Faulheit war es sicher nicht, denn die Pirahã arbeiteten hart." Und sie schlafen auch wenig, wegen der Schlangen. Überdies warnen sie ihn auch fröhlich, nicht zu schnarchen: "Die Jaguare denken, ein Schwein ist in der Nähe, und dann kommen sie und fressen dich."

Everetts Erfahrungen bei den Pirahã haben sein Leben gründlich verändert. Wer mehr darüber erfahren will, lese dieses vorbehaltslos zu empfehlende Buch.


von Hans Durrer - 19. September 2010
Das glücklichste Volk
Daniel Everett
Anke Vogel (Übersetzung)
Das glücklichste Volk

Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas
DVA 2010
Originalsprache: Englisch
416 Seiten, gebunden
EAN 978-3421043078