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Tim Weiner: CIA: Die ganze Geschichte

Eine Geschichte von Pannen und Niederlagen

Die CIA, der amerikanische Auslandsgeheimdienst, genoss über Jahrzehnte hinweg den Nimbus einer allmächtigen Spionage-Organisation, die Präsidenten ins Amt bringen und genau so gut stürzen konnte. Dieses Bild, an dem Hollywood kräftig mitgezeichnet hatte, erhält durch Tim Weiner tiefe Risse. Der mehrfach dekorierte Journalist der New York Times gilt als einer der intimsten Kenner des amerikanischen Geheimdienstsystems. In seinem viel beachteten Buch "CIA, Die ganze Geschichte", entzaubert er die agency auf radikale Weise.

Korea, China, Sowjetunion - Stochern im Nebel

Weiners Kernthese ist, dass die CIA in den gesamten 60 Jahren ihrer Geschichte am eigentlichen Auftrag vorbei gearbeitet und allen Versuchen, sie zu kontrollieren, widerstanden hat. Statt der Exekutive fundierte Analysen und belastbare Handlungsempfehlungen zu liefern, verstrickten sich die Verantwortlichen in einem Geflecht aus Ideologie, schwierigen Beziehungen zum jeweiligen Präsidenten, ineffizienten Geheimoperationen und haarsträubenden Pannen.

Die "Beweise" des damaligen Außenministers Colin Powell vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Saddam Hussein und der Irak würden über Massenvernichtungswaffen verfügen, erwiesen sich nur als jüngstes Element einer langen Kette von Fehleinschätzungen, für die Weiner einen zentralen Grund sieht: "Die Hälfte der Spione und der Analysten der CIA wurden nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 eingestellt und hatten weniger als fünf Jahre Erfahrung. Sie sind noch in der Ausbildung. Sie sprechen die Sprachen der Menschen nicht, die uns interessieren, wie Chinesisch, Arabisch oder Urdu. Außerdem wissen sie nur wenig über die Geschichte und die Kultur dieser Länder."

Für Weiner ist klar, dass die Arbeit der CIA seit ihrer Gründung im Jahr 1947 von haarsträubenden Fehleinschätzungen geprägt war. Vor allem im Kalten Krieg war sie keineswegs Auge und Schwert der Vereinigten Staaten - ganz im Gegenteil: Im Vietnamkrieg verloren die Amerikaner Tausende von Agenten, mit dem Sturz des Schah und der Islamischen Revolution im Iran hatte keiner gerechnet und vom Zusammenbrauch des" real existierenden Sozialismus" in der DDR war die agency komplett überrascht: "Die Berliner Mauer stand seit fast dreißig Jahren als herausragendes Symbol des Kalten Krieges. Als sie eines Abends im November 1989 durchlässig wurde, saß Milt Bearden, der Chef der für die Sowjetunion zuständigen Abteilung im Geheimdienst, sprachlos in der Zentrale und starrte auf den Fernseher, wo CNN über die Ereignisse berichtete."

Ehemalige Verantwortliche äußerten sich in Interviews mit dem Autor ganz offen darüber, dass sie von ihren Gegnern nicht viel mehr wussten, als die Aufklärungsfotos der U2 hergaben. Aber konkrete Arbeit vor Ort? Fehlanzeige. Zeitweilig soll es in der Sowjetunion nicht mehr als ein halbes Dutzend (!) amerikanische Agenten gegeben haben. Und China wurde geradezu zur "terra incognita".

Rechte Bluthunde oder "gute alte Bekannte"

Ihr Nichtwissen versuchten die Verantwortlichen mit verdeckten Operationen zu kaschieren, die politische Veränderungen herbeiführen sollten und allzu oft im Chaos endeten. Schon in den fünfziger Jahren wurden während des Korea-Krieges angeblich mehrere hundert Millionen Dollar für erfolglose Geheimoperationen verschwendet. Und natürlich seziert Weiner die Invasion in der Schweinebucht, die Iran-Contra-Affäre, Watergate sowie diverse Putschversuche in Lateinamerika.

Auch wenn Weiners These sich durch alle Präsidentschaften zieht, sind aus aktueller Perspektive besonders die Kapitel zu Richard Nixon und Gerald Ford interessant. Alle "Falken", die in der amerikanischen Administration in den letzten Jahren Verantwortung trugen oder noch tragen, traten im Zuge des verlorenen Vietnam-Krieges erstmals auf den Plan. Im Versuch, einen politischen Schuldigen für die schmähliche Flucht aus Saigon im April 1975 zu finden, wurde die CIA als angeblich Verantwortliche zur Schlachtbank geführt.

Im einsetzenden Personalkarussell gelangten die "Neokonservativen" an entscheidende Schaltstellen, Donald Rumsfeld wurde (erstmals) Verteidigungsminister, Dick Cheney Stabschef im Weißen Haus, George Bush sen. CIA-Direktor und Paul Wolfowitz führender Analytiker. Aber alle Versuche, die Aktivitäten der CIA durch verschärfte Maßnahmen zu verbessern, waren nicht von Erfolg gekrönt. Oder sollte man besser sagen, auch damals?

Die Maske ist ab

Weiner geht mit der CIA hart ins Gericht, ohne dabei unfair zu werden. An seiner Geschichte der agency hat er mehr als zehn Jahre gearbeitet und gut 50.000 Dokumente gesichtet, darunter zahlreiche geheime Quellen. Auch wenn der Band sicher zu einem Standardwerk avanciert, zeigen die kontroversen Reaktionen, wie umstritten seine Thesen sind. So hat die CIA ein umfangreiches Dossier zu den wirklichen und angeblichen Fehlern des Buches zusammengetragen.

Dem interessierten Leser steht ein tiefer Blick in die Geschichte der CIA, ihre Strukturen und handelnden Personen offen. Und mehr als einmal stockt der Atem, etwa als im Korea-Krieg Hunderte schlecht ausgebildete Freiwillige zu geheimen Aktionen hinter den feindlichen Linien abgesetzt und alle (!) binnen kürzester Zeit gefasst und erschossen wurden.

Und wenn es stimmt, dass die NATO die chinesische Botschaft in Belgrad 1999 bombardierte, weil die Ziele seitens der CIA aufgrund einer Touristenkarte (!) der Stadt aus den siebziger Jahren festgelegt wurden, als das Gebäude noch eine jugoslawische Militär-Behörde beheimatet hatte, fällt es wirklich schwer, Weiners Kritiker Ernst zu nehmen.


von Bert Große - 23. August 2008
CIA: Die ganze Geschichte
Tim Weiner
CIA: Die ganze Geschichte

Fischer 2008
850 Seiten, gebunden
EAN 978-3100910707