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Micha Brumlik: Wer Sturm sät

Die Vertreibung der Deutschen: höchste Zeit für eine Gedenkstätte?

Spätestens seit Günter Grass" Novelle "Im Krebsgang" von 2002 erlebte die Darstellung der Geschichte von der Flucht und Vertreibung der Deutschen Bevölkerung aus dem Osten Europas eine bis dato nicht gekannte Konjunktur. Neben zahlreicher Memoirenliteratur gelangte auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem "Politikum" stärker in den Fokus der historischen Forschung.

Seit der Bund der Vertriebenen (BdV) vor mehr als zwei Jahren die Idee eines "Zentrums gegen Vertreibungen" - eine nationale Gedenkstätte, die in Berlin entstehen soll - aus der Taufe hob, ist ein zumeist öffentlich ausgetragener Streit um die Bewertung der Vertreibung entbrannt. Bisweilen sind Politik, Medien und Wissenschaftler gespalten: Konservative Politiker und Vertriebene halten eine nationale Gedenkkultur zur Flucht und Vertreibung für überfällig und fordern vehement deren Institutionalisierung. Gegner, meist aus dem linksliberalen Lager, sprechen sich für eine Gedenkstätte aus, die das Thema international aufgreift und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung einen Platz neben anderen einräumt.

Micha Brumlik, Direktor des Fritz Bauer Instituts Frankfurt a.M. und Professor für Theorien und Bildung an der Universität Frankfurt, legt mit seinem Buch eine polemische Streitschrift vor, die sich für einen Verzicht gegen jedwede nationale Gedenkkultur ausspricht. Mit seinen scharfen Aussagen, die niemals platt und ohne mehrseitige Erklärungen und Erläuterungen auskommen, wird Brumlik seine Leserschaft spalten: Entweder man stimmt, wie der Autor dieser Rezension, seinen Aussagen zu, oder aber man wird sie rigoros ablehnen.

In sechs Kapiteln spannt Brumlik den Bogen vom historischen Ereignis, gleichzeitig ein gelungenes Resümee der bisherigen Forschung, über die Stellung des Bundes der Vertriebenen samt seines Konzeptes für das "Zentrum gegen Vertreibungen", bis hin zu Begriffsdefinitionen von "Genozid" und Vergleichsebenen am Beispiel der palästinensischen Flüchtlingsproblematik. Neben einer äußerst spannend in Teilen fesselnd zu lesenden Streitschrift vergisst Brumlik nicht, wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Alle Zitate sind belegt und damit nachprüfbar.

Die Ergebnisse seiner Arbeit lesen sich, konzis formuliert, so: Das Leiden der Deutschen durch Flucht und Vertreibung ist nur durch den Angriffs-, Rasse- und Vernichtungskrieg Hitlers im Osten Europas möglich geworden. Zudem trugen die Sudetendeutschen mit Ihrer Illoyalität gegenüber der Tschechoslowakei mit zu den ihnen später entgegengebrachten Rache- und Hassegefühlen der tschechischen Regierung bei. Die Verschiebung der Westgrenze Polens zu Ungunsten Deutschlands ist ein unmittelbares Resultat des Zweiten Weltkriegs. Der Bund der Vertriebenen hat in der Nachkriegszeit wiederholt die Verbrechen des Nationalsozialismus an den Juden mit dem Verbrechen, daran zweifelt Brumlik nicht, an der deutschen Bevölkerung gleichgesetzt. Unter seriöserem Deckmantel versucht Erika Steinbach, Präsidentin des BdV und oftmals Zielscheibe der Brumlik"schen Polemik, die revanchistische Haltung ihres Verbandes mit der Idee einer nationalen Gedenkstätte nur für deutsche Opfer der Vertreibung hoffähig zu machen. Micha Brumlik nimmt Teil für Teil die der breiten Öffentlichkeit bekannten Argumentationen des BdV auseinander und setzt sie einer historischen Überprüfung aus. So werden die "Benes-Dekrete" näher beleuchtet und theoretische Grundlagen über Schuld und Sühne vor der Geschichte thematisiert.

Als Fazit seiner Bewertung der aktuellen Diskussion um ein "Zentrum gegen Vertreibungen" und die Politik des BdV schließt Brumlik mit den Worten: "Den Urzustand alles Unversöhnlichen sollte man in der Vergangenheit belassen, dort wo er seinen Platz hat" (S. 291). In einem immer enger zusammenwachsenden Europa ist für nationales Gebaren, wie es die Vertriebenenfunktionäre an den Tag legen, kein Platz.


von Benjamin Obermüller - 08. März 2005
Wer Sturm sät
Micha Brumlik
Wer Sturm sät

Die Vertreibung der Deutschen
Aufbau 2005
300 Seiten, broschiert
EAN 978-3351025809