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Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten

In einer nicht allzu fernen Zukunft?

Klonen, das Thema, das Kazuo Ishiguro für seinen Roman gewählt hat, bewegt weltweit. Vor ein paar Jahren hat Dolly noch Wellen der Empörung hervorgerufen, heute nehmen wir die Tatsache, dass besonders ertragreiche Milchkühe gleich mehrfach "kopiert" werden, mehr oder weniger gleichgültig zur Kenntnis. Allenfalls entlocken uns Berichte über Leute, die ihr ach so liebes, aber verstorbenes Haustier nochmal haben möchten, resignative Kommentare. Anders verhält es sich, wenn es um das Klonen von Menschen geht. Oder ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch menschliche Klone alltäglich geworden sind? Aus rein utilitaristischer Sicht wäre gegen das Klonen von Menschen absolut nichts einzuwenden, leidet doch die Gesellschaft unter akutem Organmangel. So könnte jeder - mit ein paar Jahren Verzögerung - seinen privaten Spender züchten, der dann, wenn man vielleicht in Sachen Alkohol etwas zu viel und zu lang über die Stränge geschlagen hat und eben mal schnell die Leber auswechseln sollte, ausgeschlachtet werden kann.

Die Hauptpersonen in Ishiguros Roman sind Klone. Sie werden aber nicht in sterilen Loboratorien gezüchtet, sondern ziemlich human aufgezogen. Dennoch ist ihr Schicksal vorbestimmt. Sobald sie erwachsen sind, werden sie früher oder später zu Organspendern, die zwangsläufig nach der zweiten, dritten oder vierten Operation "abschliessen", wie das Sterben in ihrem Jargon harmlos genannt wird. In dem Roman lesen wir die Erinnerungen von Kathy. Kathy ist 31 Jahre alt und zurzeit Betreuerin. Als Betreuerin begleitet sie Spenderinnen und Spender - meistens bis sie sterben. Auch Kathy wird eines Tages Spenderin sein. Gross geworden ist sie im Heim Hailsham. Die "Insassen" werden beaufsichtigt, kriegen Unterricht, machen Sport, sind künstlerisch tätig und durchleben all die Ängste, Nöte und Gefühlswallungen, die man auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen eben durchmacht. Intrigen, Liebschaften, Plagereien und Gerüchte gehören zum Alltag, wie in jedem normalen Schulheim. Doch mit der Zeit kristallisiert sich immer stärker der eigentliche Daseinszweck der Bewohner heraus, ablesbar an kleinen Details im Alltag oder Bemerkungen der Lehrerinnen und Lehrer. Angesichts des nicht gerade beneidenswerten Schicksals, das die Bewohner erwartet, könnte man eigentlich eine Revolte erwarten. Eine solche findet aber nicht statt. Die Kinder, respektive später jungen Erwachsenen, leben ihr vorbestimmtes Leben, als ob es ganz normal wäre. Untereinander reden sie nur selten über das Spenden, so, als ob es unangenehm oder peinlich wäre. Das fast einzige Tollkühne, das sie wagen, ist ein Ausflug in ein Dorf, wo eventuell "Die Mögliche" von Ruth, der besten Freundin von Kathy, ist. "Die Mögliche" ist schlicht und einfach, der Mensch, der mit Ruth identisch sein müsste, was verständlicherweise ziemlich neugierig macht. Die Ausflügler verhalten sich aber eher wie Kinder, die heimlich Süsses naschen und nicht wie Erwachsene, was sie in diesem Moment eigentlich schon wären, die gegen ihr Schicksal aufbegehren.

Es ist dieses Nichteskalieren, das diesen Roman speziell macht. Keine Revolte, kein Abhauen, kein Amoklauf, kein Versuch, das System zu ändern. Deshalb ist weniger das Klonen, sondern vielmehr die Schicksalsergebenheit der Menschen das Thema von Ishiguros Werk. Wer einen spannungsgeladenen Science-Fiction-Thriller lesen will, ist nicht gut bedient. Das Werk ist eher ein Jugendroman, der - insbesondere in der ersten Hälfte, die im Heim Hailsham spielt - gewisse Ermüdungserscheinungen beim Leser hervorrufen kann. Der eine oder andere Exkurs, Kathy holt in ihren Erinnerungen gerne weit aus, hätte ohne weiteres weggelassen werden können. Sprachlich ist der Roman ziemlich schlicht - aber nicht unbedingt im negativen Sinn. Je nach dem, was man vorher gelesen hat, ist es gewöhnungsbedürftig, so einfache, ganz und gar unraffinierte Formulierungen zu lesen. Trotz diesen kleinen Vorbehalten ist der Roman zu empfehlen. Die Gefühlswelten und Beziehungen der Figuren wirken authentisch. Ohne grosse Überraschungen oder Eskalationen erscheint die Geschichte beklemmend realistisch.


von Jan Rintelen - 28. Dezember 2005
Alles, was wir geben mussten
Kazuo Ishiguro
Alles, was wir geben mussten

Blessing 2005
349 Seiten, gebunden
EAN 978-3896672339
Aus dem Englischen von Barbara Schaden