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Maxim Biller: Bernsteintage

Das Dilemma mit den Erinnerungen

Maxim Biller hat den Ruf eines Provokateurs. In den 80ern war sein Name ein Markenzeichen und stand gleichbedeutend für einen scharfen, aggressiven, ja vielleicht sogar ein wenig hasserfüllten Ton. In seinem neuen Erzählband "Bernsteintage" zeigt sich der Autor nun allerdings von einer anderen, leiseren und sanften Seite.

"Bernsteintage" vereinigt sechs Geschichten, in denen Erinnerungen eine zentrale Rolle zukommt und die jüdische Identität nur am Rand eine Rolle spielt. Die Titelgeschichte handelt von drei Jungen, die 1968 für einige Wochen zur Kur in Luzienbad weilen. Anfangs bestehen noch Differenzen, doch nach und nach entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden Tschechen und dem Deutschen. Als die sowjetischen Panzer in die Tschecheslowakei einrollen, ist die Kur allerdings jäh zu Ende - und mit ihr auch die Kindheit.

Die Bernsteinmetapher

"Seine Kindheit war von seinem Gedächtnis so fest umschlossen wie ein winziger Käfer von einem Bernsteinblock - er selbst war der Käfer, aber er war auch derjenige, der ihn von aussen betrachtete, und das verzerrte vielleicht seinen Blick", heisst es in der Titelgeschichte. Die Metapher verweist auf das Dilemma mit Erinnerungen überhaupt. Wie sehr sich die Dinge in der Erinnerung - zum Guten oder zum Schlechten - verschoben haben, ist aus subjektiver Perspektive jeweils nur schwer zu beurteilen. Dennoch beeinflussen Erinnerungen einen jeden in der Beurteilung des eigenen Lebens in der Gegenwart.

In "Ein ganz normales Leben" lässt sich die Hauptfigur von seinen Erinnerungen fast aus dem Gleichgewicht bringen. Der schon etwas ältere Hadi verbringt mit Frau und den zwei Kindern einen Sommertag am Baggersee. Die Stimmung zwischen dem Ehepaar ist angespannt, Hadi hadert mit seinem Schicksal, denkt an seine erste Frau und die gemeinsamen Kinder, die bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen waren. Doch später, als er ungeduldig im Auto auf seine Familie wartet und eine Ambulanz angebraust kommt, realisiert Hadi, was ihm die drei bedeuten. Die Kraft der Erinnerungen unterliegt in diesem Fall der Gegenwart.

Von der Vergangenheit eingeholt

In "Elsbeth liebt Ernst" wird Ernst, ein bekannter Schriftsteller, eines Tages von seiner politischen Vergangenheit, seinen Leichen im Keller, eingeholt. Nachdem Ernsts Vergangenheit in den Medien publik wird, wartet er daheim nervös auf seine Frau, die genauso unwissend war wie die Öffentlichkeit. Die beiden gehen der Konfrontation erst einmal aus dem Weg, die Spannung spitzt sich zu. Schliesslich antwortet Elsbeth auf seine Frage, ob sie weggehen werde: "Bin doch bis jetzt auch nicht weggegangen." Auch hier lässt Biller die Vergangenheit nicht das Glück zerstören, das sich die beiden in ihren gemeinsamen Jahren sozusagen erlebt haben.

Der 44-jährige Biller erzählt anschaulich und sinnlich, oft szenisch und mit Tempo, und in dem Sinn realistisch, als dass sich auch mal ein derbes Wort findet oder eine Figur nicht vor Gedanken an sexuelle Probleme zurückschreckt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Man freut sich über seine klare Sprache, die unverbrauchten Motive und einen einnehmenden Erzählfluss. Auf spannungstechnischer Ebene arbeitet er mit Anspielungen, Andeutungen und offenen Fragen, die er im Raum stehen lässt. Maxim Biller hat lesenswerte Geschichten vorgelegt, denen man nach dem Ende der Lektüre in Gedanken noch eine ganze Weile nachhängt.


von Philipp Zimmermann - 04. September 2004
Bernsteintage
Maxim Biller
Bernsteintage

Kiepenheuer & Witsch 2004
202 Seiten, gebunden
EAN 978-3462033618