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Oliver Hilmes: Berlin 1936

Sechzehn Tage, die die Welt nicht veränderten

Wann macht ein Ereignis Epoche? Wenn danach nichts mehr so ist, wie es vorher war. So gesehen waren die Olympischen Spiele von 1936 kein epochales Ereignis. Und damit ganz im Sinne ihrer Organisatoren. Die Nationalsozialisten hatten die Jugend der Welt in Berlin zu Gast. Ihre Absicht war es, allen Besuchern - nicht nur den Sportlern, auch Journalisten, Diplomaten, Politikern - zu zeigen, dass die Deutschen ein weltoffenes, tolerantes, friedliebendes Volk mit einer ebenso gearteten Regierung seien. Das ist ihnen gelungen. Die militärische Besetzung des Rheinlands nur wenige Monate zuvor? Kein Thema mehr. Die Gehirnwäsche durch eine gleichgeschaltete Presse? Fiel nicht auf, da das Propagandaministerium sich lammfromm gab, vorsorgliche Maßnahmen getroffen hatte und Hetzblätter zwei Wochen lang gar nicht oder in gezähmter Version erscheinen durften. Der Ausschluss der Juden vom öffentlichen Leben, von den Universitäten, aus der Beamtenschaft? Fiel ebenfalls unter den Tisch, da sich kaum Berührungspunkte der Gäste mit den abgeschirmten Juden ergaben.

Und doch hätte einem konsequent nachfragenden Berichterstatter manche Ungereimtheit auffallen können. Es sei denn, er hieß Thomas Wolfe und hatte die Klarsichtbrille, mit der ihr Träger die Verhältnisse daheim äußerst kritisch betrachtete, gegen ein rosarotes Exemplar eingetauscht. Der Schriftsteller Wolfe fühlte sich wohl in Deutschland. Ihm erschienen die sozialen Unterschiede im neuen nationalen Reich weniger krass als im kapitalistischen Amerika, die Angehörigen sämtlicher gesellschaftlicher Schichten kamen ihm insgesamt zufriedener, lebensfroher und vor allem materiell besser abgesichert vor.

Sechzehn Tage im August (so der Untertitel dieses Olympiabuchs der etwas anderen Art) brauchte es, um Wolfe eines Besseren zu belehren. Der Gesinnungswandel trat erst allmählich ein und wurde nur möglich, weil sich der amerikanische Gast offenen Auges in Berlin bewegte und sowohl für die Annehmlichkeiten als auch die Propaganda der neuen Ära sehr empfänglich war. Die Offenheit seiner Sinne brachte Wolfe bei einem seltenen Zusammentreffen mit einer Nazikritikerin aber auch dazu, genau hinzuhören. So erfuhr er von Drangsalierungen linker Regimegegner, Homosexueller, Asozialer und Nichtarier, deren willkürlicher Verhaftung und Internierung in Konzentrationslagern wie auch von einem dichten Netz von Informanten, die den Nazis immer neue Opfer in die Arme trieben. Wolfe fragte nach. Und siehe da, in den Kneipen, Bars und Varietés, wo er sich bislang so unbeschwert amüsiert hatte, berichteten ihm plötzlich Gäste unter vorgehaltener Hand, wer dort alles nicht mehr auftreten durfte. Zurück in Amerika, brachte Wolfe das Erlebte zu Papier, mit der gewohnten kritischen Schärfe.

Der gewendete Berlinbesucher Wolfe ist nur einer von unzähligen Puzzlesteinen, die Oliver Hilmes zu einem facettenreichen Porträt zusammenfügt. Dem Autor gelingt es, seine Leser noch einmal in das Jahr 1936 eintauchen zu lassen und die Olympiade aus den verschiedensten Blickwinkeln zu betrachten. Derjenige von Thomas Wolfe ist der politisch wertvollste. Auch das häufig zitierte Tagebuch des deutschen Propagandaministers ist sehr aufschlussreich. Kaum weniger informativ sind die vielen kleinen Szenen, die den Alltag nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen deutschen Städten aufblitzen lassen. Hilmes gibt kleinen Kriminellen, hoffnungsfrohen Mitläufern, schwärmerischen Naziverehrern, bedrängten Juden, diskriminierten Zigeunern einen Namen und lässt Anteil an deren Schicksal nehmen. Natürlich blickt er auch hinter die Kulissen der großen Politik und präsentiert eine den Nazis stets willfährig dienende Dokumentarfilmerin, einen rückgratlosen IOC-Präsidenten oder auch kaum charakterfestere westliche Botschafter.

Hilmes' Buch, das ist seine große Stärke, spricht für sich. Wer es liest, hat eine Vorstellung davon, wie ein autoritäres Regime mithilfe von PR, Propaganda und perfekter Inszenierung die Weltöffentlichkeit (und zwei Jahre später, auf der Sudetenkonferenz in München, die führenden Politiker Europas) täuschen kann. Es sollten für zwölf Jahre die letzten Olympischen Spiele sein. Einen Nachteil hat die Detailverliebtheit des Autors: Die vielen auftretenden Personen im Stück wirken leicht verwirrend. Vielleicht sollen sie das auch, um kein allzu einfaches Bild entstehen zu lassen. Imponierend ist die Vielzahl und Vielfalt an Akten, die Hilmes studiert hat. Gewiss waren es noch viel mehr als die im Anhang aufgeführten, es lässt sich schließlich nicht alles auf knapp dreihundert Seiten unterbringen.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zu editorischen Kniffen im Buch. Im Kapitel "Was wurde aus …" schreibt Hilmes die Lebensläufe von zwei Dutzend seiner Protagonisten noch ein wenig fort, um die Neugier seiner Leser zu befriedigen. Die Urheber der 280 Zitate werden am Schluss aufgeführt, mit einer schlagwortartigen Wiedergabe des Inhalts ("Direktoren von Flohzirkussen", "Adolf + ich mit Eiche"). So wird der Lesefluss nicht unterbrochen, und das lästige Rückblättern zu den Textpassagen im Buch erübrigt sich.


von Ralf Höller - 17. Dezember 2016
Berlin 1936
Oliver Hilmes
Berlin 1936

Sechzehn Tage im August
Siedler 2016
304 Seiten, gebunden
EAN 978-3827500595