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Belgien fürs Handgepäck

Belgien verstehen

Cherchez les Belges, sagen sie in Frankreich, verstehe einer die Belgier! Es ist aber auch nicht so einfach. Wie kann es sein, fragt man sich ebenfalls in Deutschland, dass die Regionalregierung eines Landes die vermeintlich abgeschlossenen Verhandlungen zum Handelsabkommen der Europäischen Union mit Kanada (Ceta) wochenlang blockiert? In der Schweiz fragt man sich das nicht. Im Urland der Demokratie haben die Bürger, haben die Kantone ein viel stärkeres Mitsprache- oder zumindest Vetorecht als selbst in der föderalen Bundesrepublik Deutschland. Dort bestimmt die regierende Partei die Politik und lässt sich ihre Beschlüsse, falls notwendig, vom Bundestag und anschließend vom Bundesrat absegnen. Als Korrektiv fungiert das Bundesverfassungsgericht, was im Extremfall dazu führt, dass wichtige Entscheidungen von Juristen statt von Politikern getroffen werden.

Doch sprechen wir lieber von Belgien. Wer dessen politisches System begreifen will, sollte den Aufsatz Wie Belgien funktioniert von Karl-Heinz Lambertz lesen. Sein Beitrag ist neben anderen nicht weniger aufschlussreichen im Band Belgien fürs Handgepäck versammelt. Der aus der kleinen deutschen Volksgruppe stammende Politiker erläutert, wie Belgien sich von einem Zentral- zu einem Föderalstaat entwickelt hat und weshalb dies auch funktioniert. Als Erklärungsmodell hat ihm Ceta nicht zur Verfügung gestanden, der Streit war zur Erscheinungszeit des Buchs noch nicht akut. Belgien ist in drei Regionen aufgeteilt: Wallonie, Brüssel und Flandern. Alle drei haben ein eigenes Parlament, das nicht von einem Bundesparlament überstimmt werden kann. Die dort vertretenen Parteien, Christdemokraten, Sozialisten, Grüne undsoweiter, unterscheiden sich voneinander nicht nur durch ihre weltanschauliche Ausrichtung, sondern auch durch ihre sehr starke regionale Prägung. So kam es, dass Ceta in Flandern auf geringen, in der Wallonie und Brüssel auf großen Widerstand stieß. Da konnte das restliche EUropa noch so sehr toben: Die Politiker beider Regionen ließen sich nicht beirren, erfüllten ihren verfassungsgemäßen Auftrag und unterzogen Ceta einer gründlichen Prüfung, die, nebenbei bemerkt, den übrigen involvierten EU-Staaten auch gut zu Gesicht gestanden hätte.

In Belgien fürs Handgepäck geht es aber nicht nur um Politik. Es ist die beste Landeskunde überhaupt zu Belgien. Obwohl 2011 erschienen und teilweise mit noch sehr viel älteren Beiträgen bestückt, ist sie - siehe Ceta - immer noch aktuell. Das mag auch daran liegen, dass die Herausgeberin Françoise Hauser es nicht auf einen Schnellschuss, sondern auf tiefgreifende Information abgesehen hat. Der Unterhaltungswert leidet keineswegs unter dem hohen Anspruch. Schon der einleitende Beitrag von Dietmar Sous lässt aufhorchen und macht neugierig. Da putzt ein in Belgien lebender Deutscher sein Gastland dermaßen herunter, indem er alle Schwächen des Staates und seiner Bürger schonungslos aufzählt, um im letzten Satz zu erklären: "Hier möchte ich für immer bleiben."

Liegt es an den Künstlern (Peter Paul Rubens, René Magritte, auch Jacques Brel), den Schriftstellern (Georges Simenon, Hugo Claus), den Fritten, dem Bier, der Schokolade (allen diesen Genüssen ist ein eigenes Kapitel gewidmet), den malerischen alten Städten (Brügge, Gent) oder den eigenwilligen Metropolen (Lüttich, Brüssel)? Sie alle tragen zur eigenwilligen Schönheit und widerspenstigen Anziehungskraft des Landes bei. Hinzu kommt das Anarchische, der Obrigkeitshass und die Laisser faire-Einstellung seiner Bewohner. Letztere hat auch ihre Nachteile, die - und das ist das einzige Manko - in dem Buch nicht angesprochen werden. Zwar wird in einem Kapitel (über Patrice Lumumba, den mit Hilfe belgischer Geheimdienste ermordeten ersten Premierminister des unabhängigen Kongo) gründlich mit der Kolonialvergangenheit abgerechnet. Doch hätte man sich auch Beiträge über dunkle Flecken der jüngeren belgischen Geschichte gewünscht, die Affäre Dutroux beispielsweise oder der Terror der Bande von Nivelles. In den 1980er Jahren fielen ihr 28 Menschen ebenso zum Opfer wie der Glaube der Belgier an einen funktionierenden Staat.

Abgerundet wird der Band durch einige literarische Beiträge, deren Qualität überrascht. Wer hat schon mal von Freddy Derwahl gehört? Oder von Helmut Domke? Ihre Erzählungen über Leben und Sterben eines Eupener Regionalpolitikers und eines Lierser Ziegelbrenners zählen zu den Glanzpunkten in Françoise Hausers Sammlung. Wer demnächst nach Belgien fährt, sollte sich dieses Buch ins Handgepäck legen. Wer demnächst nicht nach Belgien fährt, etwa weil er auf einen Besuch aus finanziellen oder zeitlichen oder was immer für Gründen verzichten muss, für den sind knapp elf Euro für dieses Buch ebenfalls eine sinnvolle Investition. Selbstverständlich auch für diejenigen, die ihr kaum vorhandenes Wissen über ein Land ganz in ihrer Nähe aufbessern möchten, und nicht zuletzt für alle, die über Belgien ganz gut Bescheid wissen, aber immer noch Unbekanntes in diesem Land entdecken wollen.


von Ralf Höller - 11. November 2016
Belgien fürs Handgepäck
Françoise Hauser (Hrsg.)
Belgien fürs Handgepäck

Unionsverlag 2013
204 Seiten, broschiert
EAN 978-3293205116