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Andrej Arsen’evič Tarkovskij: Stalker

Wunschzone

"Gefängnis? Für mich ist es überall, dieses Gefängnis.", sagt Stalker zu seiner Frau. Die langsame Kamerafahrt auf das Ehebett, ist der Beginn einer Odyssee durch die "Zone", der Ort wo Wünsche erfüllt werden, zumindest der "geringsten" Wünsche. Stalker verabschiedet sich von seiner Frau, denn er will dorthin, wo es verboten ist zu sein. In der Zone soll ein Meteoritenschwarm niedergegangen sein, der Wünsche erfüllen könne. Deswegen wird die Zone schwer bewacht und unzugänglich gemacht. "Denn wer weiß, was die Menschen für Wünsche haben", sagt Stalker. Die Behörden wollen die Menschen also zu ihrem Besten vor ihren Wünschen bewahren. Doch Stalker führt einen Schriftsteller und einen Professor der Physik auf Schleichwegen, die nur er kennt, in die Zone. Der eine sucht Inspiration, der andere das Glück für alle, das für ihn in der Zerstörung der Zone besteht. "Werfen Sie mir von hinten keine Eisenstücke an den Kopf", wird bald zum geflügelten Wort, als die drei in die Zone eintreten, denn Stalker benimmt sich wie ein Parkwächter und verbietet den anderen, Dinge anzufassen. Das bringe Unglück. Dabei hatte er das schon. Er selbst ist krank, seine Tochter behindert, seine Frau alleine.

"Schraubenmuttern werfen"

Es sind die kleinen Details - wie die Geräusche der Bahngleise, die während der Kamerafahrt über das Gitterbett in die Ohren des schlafenden Ehepaares dringen, oder das Schraubenmuttern werfen, mit dem sich die Eindringlinge später in der Zone fortbewegen werden, die Tarkowskijs Film so einzigartig machen. Wenn sich dann die Kamera den Gesichtern nähert oder wenn der Schriftsteller auf die Eingangstüre einer Bar zukommt, die Quadratur des Bildausschnittes durch die Fensterrahmen bestimmt wird und der Schriftsteller dann vor der Bar ausrutscht. Oder wenn seine Frau in einem Coupé aufbrausend davonfährt und der Schriftsteller seinen Hut auf dem Dach vergisst und sich im Nachschauen nachdenklich an den Kopf greift. Oder wenn am linken Bildrand eine schwarze Säule steht, die der Kameraeinstellung eine neue Umrahmung verpasst, die die Szenerie auf einem geheimnisvollen, nebeligen Güterbahnhof im Nirgendwo noch authentischer macht. Aber das ist noch gar nicht die Zone, das ist erst das Niemandsland zwischen der Welt, in der die Protagonisten leben und jener Welt in die sie entfliehen wollen. Schraubenmuttern werfen, wird hier zur neuen Fortbewegungsart. Immer wieder durchkreuzen Balken, Säulen, Rahmen und Baumstämme den Bildausschnitt. Ein Zug fährt durchs Bild und durch einen Kugelhagel der Verteidiger befinden sich die drei Abenteurer plötzlich in der Zone. Die Bilder sind hier mindestens so berauschend, wie die geführten Gespräche. Tarkowskij`s Stalker ist tatsächlich ein intellektueller und ästhetischer Hochgenuss.

Auf der Suche nach der verlorenen Wünschen: Referenzen

"Was weiß ich was ich da will. Und woher soll ich da wissen, dass es das dann wirklich ist was ich will. Oder sagen wir, dass ich wirklich das nicht will, was ich da will. Das sind alles unbegreifbare Dinge, man braucht sie nur zu benennen und ihr Sinn verschwindet, schmilzt, löst sich auf wie die Qualle in der Sonne. Haben Sie das einmal gesehen? Mein Bewusstsein möchte den Sieg der vegetarischen Lebensweise und mein Unterbewusstsein giert nach einem saftigen Stück Fleisch. Also: was will ich?", stellt sich der - offensichtlich inspirierte Schriftsteller laut die Frage seines Lebens. Als die drei Reisenden auf einer Draisine endlich in der Zone ankommen, weichen die scharfen s/w-Kontraste plötzlich einem weichen Grün. Die Zone ist ein stillgelegtes Stück Gleis in der Natur, mit Höhlen und verwachsenen Bahnsteigen. An dieser Stelle gibt es auch eine völlig unerwartete Referenz an den DEFA-Film "Chingachgook, die große Schlange", aus dem Jahre 1967, ein vom DEFA-Studio für Spielfilme, Gruppe "Roter Kreis", produzierter Indianerfilm des Regisseurs Richard Groschopp. (Bei Icestorm/telepool ist übrigens auch eine 12teilige DVD-Sammlung zum Thema erschienen.) Tarkowskij hat die Sowjetunion 1983 verlassen, dürfte die DEFA-Filme also noch im sog. Ostblock gesehen haben. 1967 war er allerdings schon 35 Jahre alt.

Am Ende des Tunnels: Hoffnung

Ob es sich nur um eine Hommage der deutschen Übersetzer handelt, ist unklar, denn das russische Original lag für die Rezension nicht vor. Aber die Referenzen kommen auch später vor, wenn der Schriftsteller immer wieder von "der großen Schlange" oder "Lederstrumpf" spricht. Es ist wohl eine unfreiwillige, zufällige Pointe, denn ansonsten liebt es Tarkovskij hochkulturell: etwa wenn die Kamera über die Bombe im Wasser fährt, einen blutigen Fisch zeigt und dazu kurz "Bolero" von Maurice Ravel angespielt wird. Am Ende des Films hört man auch einen ganz kurzen Ausschnitt aus Beethovens "Ode an die Freude" von Schiller, heute besser bekannt als Europahymne. Eine Schlüsselstelle des Films, denn Stalkers Tochter, die in Farbe gezeigt wird, entpuppt sich als Telekinetin, ansonsten gibt es aber wenig Lichtblicke in der Welt außerhalb der Zone. Stalkers Frau bettet ihn in das Gitterbett, gibt ihm Medizin und spricht in ihrem Schlussmonolog in die Kamera, über den "ewigen Häftling", ihren Mann. So lange es Kinder gibt, gibt es Hoffnung, wahrscheinlich sollte die Kamera genau das zeigen, was dem träumenden Auge niemals verschlossen bleibt.

Die traurigen Konsequenzen kinematographischer Ästhetik

Andrej Tarkowskij hatte den Film noch in der Sowjetunion gedreht, oder zumindest in deren Machtblock, nämlich in einer Kartonagefabrik in der Nähe von Talinn in Estland. Anscheinend soll er sich dort auch den Krebs eingehandelt haben, an dem er ein paar Jahre später, 1986, im französischen Exil starb. Auch für andere Mitarbeiter des Films, habe der Drehort schreckliche Konsequenzen gehabt. Man sieht die Gefährlichkeit des Territoriums, der vermeintlichen "Zone" tatsächlich auch im Film: Nämlich als es im Sommer schneit und ein weißer Schaum auf dem Fluss schwimmt. Oder wenn beim telekinetischen Abschiedsbild, weiße Flusen über den Tisch segeln. Sind es nur Blüten? Das Bild ist so stark, dass es wie eine Fotografie wirkt. Eine Momentaufnahme, die einem ewig in Erinnerung bleibt, verkörpert sie doch nicht nur Tarkowskijs Hoffnung.

Tarkowskij konnte im Exil zwei weitere Filme nach "Stalker" drehen, "Nostalghia" (1983) in der Toskana/Italien, "Opfer" (1986) in Schweden respektive Frankreich. Die Science-Fiction-Grundlage von "Arkadi und Boris Strugazki" hat Tarkowskij in Zusammenarbeit mit den Autoren komplett umgearbeitet und sie so - wie zuvor schon in "Solaris" - zur Projektionsfläche seiner mystisch-philosophischen Reflexionen über den Sinn des Lebens gemacht. Aber seine kinematographische Ästhetik soll ihn so weit gebracht haben, dass er die komplette erste Version des Films verbrannte und alles mit einem anderen Kameramann neu drehte.

"Der größte Feind des Individuums sind die Illusionen, die man sich über sich selbst macht."


von Juergen Weber - 07. Juli 2012
Stalker
Andrej Arsen’evič Tarkovskij
Stalker

1979
Spielzeit: ca. 160 Minuten
EAN 4028951192953