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Andreas Altmann: Reise durch einen einsamen Kontinent

Südamerika

Es gibt Bücher (sie sind selten), von denen fühlt man sich sofort dermassen angetan, dass man gleich von der ersten Seite weg daraus vorlesen (oder zitieren) will. Andreas Altmanns "Reise durch einen einsamen Kontinent" gehört dazu. Nicht weil Altmann so wahnsinnig gut schreibt (sprachlich ist er eher mittelprächtig - siehe die nachfolgenden Auszüge), sondern weil er etwas erlebt und Eigenständiges zu sagen hat. Okay, nicht von der ersten, von der zweiten Seite, dem Vorwort, weg; die allererste Seite mit den ärgerlich banalen Zitaten von David Hockney {Die Menschen sind das Interessanteste von allem}, Teófilo Stevenson {Es gibt nichts Schöneres als das Leben} und der wenig inspirierenden Einsicht von Jorge Luis Borges {Ich habe die schwerste Sünde begangen, die ein Mensch begehen konnte: Ich war nicht glücklich}- was für ein Schmarren: als ob es eine Pflicht gäbe, glücklich zu sein - hätten getrost weggelassen werden können.

Zum Vorwort also: "Ich reise durch den Kontinent wie einer aus dem 21. Jahrhundert. Wo immer ich bin, bin ich vor Ort, bin da. Und bin gleichzeitig vernetzt. Ich höre eine Radionachricht, ich lese die Zeitung, irgendwo flimmert ein Fernseher, E-Mails warten. Sie alle lösen Querverbindungen aus, Hintergedanken, bringen den Fleck, an dem ich mich gerade aufhalte, in Verbindung mit der Welt. Jeder Moment zeigt mir, dem Fremden, wie sehr ich mich von den anderen unterscheide. Und wie sehr wir uns ähneln."

In Bogotá trifft er auf Seymour, einen Autoschlosser aus Wisconsin. "Lange Zeit hat der 52-jährige mit sich gekämpft, bevor er hierher kam, lies sich immer wieder einschüchtern von den Gräuelberichten der Presse. Gerade hat seine Regierung vor Reisen durch Kolumbien gewarnt. Diesen Aufruf quittiert der Mechaniker mit dem Satz: "Ich bin froh, dass ich nicht mehr hinhöre. Wir sterben nicht an den Gefahren, wir sterben an unserer Angst vor diesen Gefahren.’ Ich stecke die Mailadresse des Handwerkers ein. Brauche ich einen klugen Gedanken, werde ich mich melden."

"Beim Frühstück lese ich, dass die Ciudad Bolívar die herausforderndste Gegend der Hauptstadt ist, mit den meisten Banden und den schiesswütigsten Arbeitslosen, fast jeden Tag ein Mord, ein Totschlag … Ich will nicht sterben, ich weiss nur aus Erfahrung, dass erstens grundsätzlich und grandios übertrieben wird, dass zweitens ein Weisser (ohne Kamera, schmucklos und zu Fuss) nicht sofort standrechtlich erschossen wird und dass ich drittens Geschichten suche." Eine 74-Jährige, 154 Zentimeter grosse Frau, nimmt sich seiner an, führt ihn zu ihrer "Behausung, vier Wände mit einem Blechdach, zur Strassenseite zwei vergitterte Fenster, die Löcher mit Pappe verstopft … Meist schaut sie fern, ab 17 Uhr durchgehend. Dann liegt sie im Bett und starrt ins dunkle Eck, aus dem es hell flimmert. Sie mag alles, Hauptsache, sie hört "Stimmen’. Ich begreife für einen Augenblick den Nutzen eines Geräts, das sie hier "caja tonta’ nennen. Und hätte die Idiotenkiste keinen anderen Sinn, als die Einsamkeit von Señora Curieta zu lindern. Ohne die Stimmen würde sie noch verlassener im Bett liegen." (Eine junge Frau im thailändischen Pattaya, die auf einem überdachten Markt Kleider verkauft, geht mir durch den Kopf. Sie guckt eine chinesische Serie im Fernsehen an und sagt lachend: das Gute daran sei, dass es nicht darauf ankomme, ob man hinschaue oder nicht).

Überzeugend an diesem Buch ist nicht zuletzt, dass der Autor einlöst, was er im Vorwort gleichsam als sein Reiseprogramm angekündigt hat, nämlich vor Ort zu sein und gleichzeitig in Verbindung mit ganz Anderem (Gedanken, Erinnerungen etc.) zu stehen, denn ganz genau so findet Reisen statt. Besonders schön zeigt sich dies in folgendem Abschnitt:
"Auf der Fahrt zurück in die Stadt sitzt mir im Bus ein Ehepaar gegenüber. Unschwer zu erkennen, dass beide aus einfachsten Verhältnissen stammen. Auffallend auch hier das aussergewöhnlich attraktive Gesicht der Frau. Seltsamerweise starrt ihr Mann sie nicht an, nicht bewundernd, nicht atemlos. Er sitzt und döst. Weiss er überhaupt, wie schön sie ist? Verwittern Frauen deshalb so schnell (und auf diesem Kontinent schneller als sonstwo) weil bald kein Bewunderer mehr sie bewundert? Weil aus der Göttin ein Haushaltsgerät wird, das ohne grösseres Aufsehen zum (vielfachen) Brutkasten mutiert, zur Köchin und Wäscherin?
Ich erinnere mich an den Kommentar eines arabischen Freundes. Saïd sprach davon, dass der Schleier eine Art Todesurteil für die Frauen seines Landes bedeute. Weil keine Blicke, keine Männerblicke, mehr die Augen einer Frau träfen. Nichts in der Welt dränge mehr darauf, dass die Schöne schön bleibe. Der Schleier als Sargdeckel, der die Toten von den Lebenden scheidet."

Andreas Altmanns "Reise durch einen einsamen Kontinent" (trotz des misslungenen Titels - wie kann ein Kontinent einsam sein?) ist eine spannendes, anregendes und lehrreiches Buch, auch wenn man nicht alle seine Vorlieben ("Ich mag die Listigen, einen wie Raúl, der von der Dummheit der anderen lebt.") teilen mag.

Warum der Autor wohl reist? Ist er womöglich auf der Suche nach dem Glück? (was dann auch das Borges-Zitat am Buchanfang erklären würde). Ein guter Grund wäre dies allemal. Jedenfalls will er wissen, was die Leute in Ecuador glücklich macht. In Otavalo fragt er eine Bäckerin ("Alles, was mich umgibt"), in Guayaquil einen Taxifahrer ("Klar bin ich glücklich. Weil ich nicht mehr verlange, als ich habe, ich träume nicht"). Schön, dass er fragt. Und schön, die Antworten, die er kriegt.


von Hans Durrer - 24. März 2009
Reise durch einen einsamen Kontinent
Andreas Altmann
Reise durch einen einsamen Kontinent

Unterwegs in Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile
Rowohlt 2009
272 Seiten, broschiert
EAN 978-3499248214
Originalausgabe: DuMont